Zwischen Babel und Pfingsten
Oratorium "Aufstand der Worte"
Erfurt - Das Plakat im Schaukasten der Reglerkirche in Erfurt zeigte ein mittelalterliches Bild vom Turmbau zu Babel. Der bruchstückhaft eingestreute Bibeltext verwies auf die Geschichte von der Verwirrung der Sprache. Und um Sprache beziehungsweise um Kommunikation sollte es auch in dem Konzert gehen, das dieses Plakat für den 5. Juni ankündigte: die Aufführung des Oratoriums "Aufstand der Worte" von dem Leipziger Kirchenmusiker Kurt Grahl (Musik) und dem Erfurter Theologen Claus-Peter März (Text)
Das Werk nimmt die beiden großen Geschichten von der Kommunikation auf, die in der Bibel erzählt werden: Babel und Pfingsten. Es will von jenem Babel erzählen, dem die Menschen so oft nicht entkommen können: jenem falschen und unmenschlichen Reden, das das Haus der Menschen unbewohnbar macht. Mehr noch aber soll der pfingstliche "Aufbruch des neuen Redens" zur Sprache kommen - nicht nur als ferne Vision, sondern als praktische Lebensmöglichkeit
Im vorigen Jahr wurde das Oratorium, das für Chor, Instrumentalensemble und Tänzer ausgelegt ist, in der katholischen Propsteikirche in Leipzig uraufgeführt und schon bald darauf noch einmal wiederholt. Zum dritten Mal war es nun in Erfurt zu hören. Für die Reglergemeinde stand die Einladung auch im Zeichen der ökumenischen Kommunikation
Die, die an jenem Nachmittag in die Reglerkirche gekommen waren, konnten ein außergewöhnliches Konzert erleben. Sie wurden mitgenommen auf die Wege zwischen Babel und Pfingsten, konfrontiert mit den Aufbrüchen und Abbrüchen der menschlichen Kommunikation. Kurt Grahls Musik vermochte sowohl mit leisen Tönen wie auch mit großen Gesten die Texte für die Hörer und die Hörer für die Texte zu öffnen; sie verlieh den Aussagen bisweilen geradezu bedrängende Aktualität. Die "Tänzerinnen" setzten den Text in einprägsame Bilder um und ließen Fragen und Hoffnungen anschaulich werden. Das Ensemble von etwa 50 zumeist jungen Sängern und Musikern bot unter der Leitung des Komponisten eine faszinierende Aufführung. Es sei kein übliches Konzert gewesen, sagte ein Besucher am Schluß, eher eine Meditation, ein Aufruf oder Verkündigung mit dem Mittel der Musik. Er traf damit sicher das Empfinden der meisten Zuhörer
Im Anschluß an die Aufführung war zu einem Treffen im Gemeindehaus eingeladen, bei dem auch Gelegenheit war, sich mit den Leipziger Musikern auszutauschen. Man konnte erfahren, daß sie zwar alle in den verschiedensten Gruppen und Chören der Leipziger Propsteigemeinde aktiv seien, aber sich speziell für dieses Werk in dieser "Formation" zusammengefunden hätten. Es war zu spüren, daß sie von dem, was sie sangen, begeistert waren, und jede Aufführung ihnen das Stück ein wenig mehr erschloß. Ob eine Gemeinde sie denn einfach so einladen könne, fragte ein Gast, der nicht aus Erfurt kam. Für Kurt Grahl kein Problem: "Wir haben an diesem Oratorium gearbeitet, um mit ihm eine Botschaft zu Gehör zu bringen. Deshalb werden wir im Rahmen unserer Möglichkeiten immer versuchen, eine solche Einladung umzusetzen."
Sigrun Pabel
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 20.06.1999