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Bistum Erfurt

Eine Brücke ins selbständige Leben

Raphaelsheim

Heiligenstadt (jk) - Ein einzigartiges Projekt für psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen im Eichsfeldkreis wird im Juli in Heiligenstadt eröffnet: In dem Übergangswohnheim sollen bis zu zwölf psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen während einer Rehabilitation durch Betreuung, Beratung und andere Angebote darauf vorbereitet werden, ihr Leben selbständig oder mit nur noch geringer Hilfe zu meistern. Dem neuen "Übergangswohnheim für psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen" wird damit eine Art Brücken-Funktion zwischen Krankenhausaufenthalt und Leben in der eigenen Wohnung zukommen. Gleichzeitig mit dem Übergangswohnheim soll im gleichen Haus in der Heiligenstädter Bahnhofstraße 4 auch eine Tagesstätte für psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen mit 15 Plätzen eröffnet werden. Bisher gab es für psychisch kranke Menschen im Eichsfeldkreis kein derartiges Beratungs- und Betreuungsangebot

Übergangswohnheim und Tagesstätte sind Teil der Raphaelsheim gGmbH in Heiligenstadt. Zu der Einrichtung gehören bisher vier Wohnheime für geistig, körperlich und seelisch behinderte Menschen, die sich in Heiligenstadt, Kloster Beuren und in Neustadt befinden. Am diesem Sonntag, 27. April, können sich Interessierte bei einem Tag der offenen Tür in Verbindung mit dem "3. Raphaels-Familienfest" über die Arbeit der Behinderteneinrichtung infomieren. Zugleich wird ein buntes Programm für die ganze Familie angeboten

Im April diesen Jahres hatten Mitarbeiter, Gäste und Behinderte bei einem Festtag auf das 85jährige Bestehen zurückgeblickt. Begonnen hat das Engagement für Behinderte im Eichsfeld allerdings schon vor 100 Jahren. Gebaut wurde das Raphaelsheim vom Erziehungsverein für den östlichen Teil der Diözese Paderborn, um schwer erziehbaren und verwahrlosten Kindern aus dem Eichsfeldkreis ein Zuhause und eine Starthilfe ins Leben zu geben. Im Eröffnungsjahr 1914 bezogen 25 Jungen und 13 Mädchen die Einrichtung. Von Beginn an haben Schwestern des Mutterhauses Heiligenstadt - Schwestern der Hl. Maria Magdalena Postel - bei der Betreuung und Wirtschaftsführung maßgebliche Arbeit geleistet. Bis 1960 war das Raphaelsheim eine Fürsorge- und Erziehungseinrichtung mit eigener Heimschule. 1960 mußte auf staatlichen Druck die Heimschule geschlossen werden. 1963 mußten auf staatliche Weisung hin alle kreisfremden Kinder die Einrichtung innerhalb weniger Stunden verlassen. Ein Jahr später begann die Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Vor allem Kinder und Jugendliche, die schulbildungsunfähig, aber förderfähig waren, wurden aufgenommen

Im April 1963 wurde das Haus umgewidmet in ein Heim für geistig behinderte Jungen und Männer. Für Mädchen wurden im Raphaelsheim zum Beispiel von der Caritas Hauswirtschafts-kurse eingeführt. Zu DDR-Zeiten war das Haus ständigen Repressalien ausgesetzt. Immer weniger Kinder bekamen einen Platz, Land wurde enteignet, Bauanträge abgelehnt oder erschwert. Erst 1978 konnte im Rahmen des Sonderbauprogramms das Bischof-Aufderbeck-Haus für die Arbeitstherapie errichtet werden

Nach der Wende wurde die Organisationstruktur der Behinderteneinrichtung verändert, die Wohnheime wurden erweitert und renoviert. So wurde 1991 der Werkstatt-Bereich in einen eigenständiger Verein aus dem Raphaelsheim ausgegliedert. Heute gehören zur Raphaelsheim gGmbH fünf Einrichtungen mit einer Gesamtkapazität von 171 Plätzen und 135 Mitarbeitern

Monsignore Josef Kesting hat fast die Hälfte der wechselvollen Geschichte des Raphaelsheimes miterlebt. Seit 42 Jahren leitet er die Einrichtung. Das erschütternste Erlebnis seiner Zeit als Direktor hatte er im Jahr 1963, als innerhalb von einer halben Stunde alle Kinder, die dem Wohnsitz nach nicht aus dem Eichsfeldkreis stammten, die Einrichtung verlassen mußten. Von staatlichen Behörden wurde ein Bus bereitgestellt, der die Kinder zum Rat des Kreises transportierte, von wo aus sie auf andere, vorwiegend staatliche, Einrichtungen neu verteilt worden. Dem war ein langer Papierkrieg vorausgegangen. Bis zum damaligen Staatschef Walter Ulbricht hatte sich Kesting gewandt, um die Kinder behalten zu können - vergeblich. Die staatlichen Behörden wollten sie aus der Einrichtung heraushaben, weil sie die Nähe zur naheliegenden Grenze fürchteten, wo auch Kinder immer wieder in den Westen gingen

"Die DDR-Behörden haben die Arbeit mit den Behinderten immer wieder behindert", erinnert sich der heute 72jährige Geistliche. So wundert es nicht, das für ihn "die Wende das größte und schönste Ereignis" war. "Das hat für das ganze Haus einen Aufschwung gegeben. Wir konnten frei entscheiden und zum Beispiel endlich Anträge für unsere Bauten stellen. Für die Behindertenarbeit gab es nach der Wende einen großen Aufschwung", so Kesting. Endlich würden die neu geschaffenen Bedingungen die Anforderungen an eine Rehabilitation ganz erfüllen und auch menschlichen Bedürfnissen voll entsprechen. "Das Schwierige heute ist die ständig neue Gesetzgebung und die Verknappung der Mittel", erzählt Monsignore Kesting über die neuen Probleme. Seit 1995 ist Erhardt Monecke Geschäftsführer der neu gegründeten Raphaelsheim gGmbH und seit 1997 auch des Vereins Eichsfelder Werkstätten e.V. Vorher war er Verwaltungsleiter. Auch für ihn ist die Entwicklung der Einrichtung in den letzten Jahren sehr rasant. " Als ich hierher gegangen bin, war ich 46 Jahre alt. Und wenn man in diesem Alter eine derartige Chance bekommt, solch einen Aufschwung zu begleiten, ist das schon etwas ganz besonderes", sagt Monecke

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 25 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 27.06.1999

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