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Zarentochter führte Weimar ins Silberne Zeitalter

Auf den Spuren großer Frauen (Teil eins)

Orthodoxes Leben - auch das gehört zum Leben Weimars, der Kulturhauptstadt Europas 1999 dazu. Zwar ist die von Vater Ioann Saretski betreute Gemeinde mit zirka 100 Personen zahlenmäßig eher klein doch von den Nationalitäten äußerst vielfältig. So kommen nicht nur Russen sondern auch Bulgaren, Ukrainer, Deutsche und viele andere Nationalitäten zum Gottesdienst in die kleine russisch-orthodoxe Kirche auf dem Historischen Friedhof der Klassikerstadt. Die Kirche selbst gehört zur Stiftung Weimarer Klassik und ist für Besucher zugänglich. Wichtige Informationen gibt es von den vier Betreuerinnen. Eine von ihnen ist Ingeburg Möhl. Sie berichtet von Maria Pawlowna, der russischen Großfürstin, die 1804 als Braut des Erbherzoges Carl Friedrich nach Weimar kam und laut Ehevertrag ihren orthodoxen Glauben behalten durfte

Die Verbindung hatte zudem eine politische Brisanz. Das kleine Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach fühlte sich durch die Französische Revolution und die Entwicklungen in Frankreich wie alle Kleinstaaten in seiner Stabilität verunsichert und suchte den Schutz einer Großmacht. So wandte sich Herzog Carl August 1799 an den russischen Kaiser Paul mit der Bitte, um eine Eheschließung zwischen seinem Sohn Carl Friedrich und Pauls 1786 geborener Tochter Maria Pawlowna. Für die politische Entwicklung Sachsen-Weimars ein Schritt in die richtige Richtung. Doch noch bedeutsamer war Maria Pawlownas Rolle für das nachklassizistische Weimar. So wie einst Anna Amalia den Boden für die Klassik bereitete, so fiel Maria Pawlowna die Aufgabe zu, das Erbe zu verwalten und durch neue Akzente zu mehren. So wird ihre Epoche das "Silberne Zeitalter" Weimars genannt. Hierfür nur ein Beispiel: 1842 wird der ungarische Komponist Franz Liszt nach Weimar berufen, 1848 läßt sich Liszt in der Klassikerstadt nieder. Neben den kulturellen Aktivitäten wirkte Maria Pawlowna auch karitativ. Es entstanden Kinderbewahranstalten, Suppenküchen, Bibliotheken, Krankenhäuser und Sparkassen

Nach dem Tod von Carl August erlangen Carl Friedrich und Maria Pawlowna die Großherzogswürde. 1853 stirbt Carl Friedrich und Maria Pawlowna bewohnt das Schloß Belvedere als Witwensitz. Das Jahr 1854 wird für ihre Popularität zum Testfall: Wie werden die Weimarer den 50. Jahrestag ihre Ankunft feiern? So jedenfalls sieht es der Historiker Detlef Jena in seiner kürzlich bei Pustet und Styria erschienenen Biographie "Maria Pawlowna - Großherzogin an Weimars Musenhof". Dieser "Testfall" wird für sie zu einem Triumph, die Menschen erkennen ihr jahrzehntelanges Arbeiten und Wirken für Weimar an und feiern ihre Fürstin

Am 23. Juni schließt sich der irdische Wirkungskreis der russischen Großfürstin im Belvedere. Ihrem Wunsch entsprechend wurde sie auf russischer Erde beigesetzt und über ihrem Grab erhebt sich seit 1862 die russisch-orthodoxe Kirche der apostelgleichen Maria Magdalena, ebenfalls ein Wunsch Maria Pawlownas. Wer die Fürstengruft betritt, kann ihren Sarkophag neben dem ihres Mannes stehen sehen, scheinbar in einem Raum und doch in einem anderen, wenn auch angrenzendem Gebäude. Und jedes Jahr an ihrem Sterbetag dringt bei sonnigem Wetter zur Mittagszeit ein Sonnenstrahl durch die Scheibe der Kapelle, durchbricht eine Öffnung zur Gruft um dann auf dem Sarg zu verweilen. Führerin Ingeburg Möhl bestätigt dies, erst kürzlich sei der Vorgang bei Fernsehaufnahmen mittels eines Scheinwerfers nachgestellt und gefilmt worden

Von 1862 bis 1909 fanden in der Kirche regelmäßig orthodoxe Gottesdienste statt. Erzpriester Ioann Saretski erinnert unter anderem an seinen Vorgänger Erzpriester Stefan Sabinin, den letzten Beichtvater Maria Pawlownas. Unter anderem übersetzte Sabinin Novellen Alexander Puschkins ins Deutsche, sie erschienen 1840 in Jena. Mit der Schließung der russischen Gesandtschaft im Jahr 1909 findet das orthodoxe Leben ein vorläufiges Ende. Die ändert sich erst 1950, es kommt unter Erzpriester Andrej Melnik zur Wiedergründung einer Gemeinde und in der Kirche finden wieder regelmäßig Gottesdienste statt

Die Gemeinde gehört zur Berliner Diözese des Moskauer Patriachates. Erzpriester Ioann Saretski verweist auf die guten ökumenischen Verbindungen zu den anderen Kirchen in der Klassikerstadt. Zugleich ist er stolz auf seine Kirche und ihre Tradition. Auf die Frage, was die Menschen in Deutschland von der Orthodoxie lernen können, benennt er ohne zu Zögern die Beibehaltung der alten Traditionen und der moralischen Prinzipien. "Es ist alles noch genauso wie es vor 1000 Jahren war, diese Stabilität ist etwas Gutes", betont der Erzpriester. Leider ist es jetzt jedoch so, daß sich kaum eine feste Gemeinde findet, die Leute kommen und gehen. Eine Ursache sieht Saretski in der hohen Arbeitslosigkeit in Thüringen, die Menschen gehen einfach dorthin, wo sie Arbeit finden. Wer mehr über die russisch-orthodoxe Kirche und die Gemeinde in Weimar erfahren möchte, ist in der Kirche ein gern gesehener Gast, Führerin Ingeburg Möhl und ihre drei Kolleginnen stehen bei Anfragen gern zur Verfügung. Holger Jakobi

Öffnungszeiten: 9 - 16.45 Uhr, dienstags geschlossen. Die Fürstengruft ist 9 - 13 und 14 - 19 Uhr geöffnet, dienstags geschlossen.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 27 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 11.07.1999

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