Mensch, wo bist du?
von Pater Damian
Die erste Frage, die Gott in der Bibel an den Menschen richtet, lautet: "Adam, wo bist du?" (Gen 3,9). Nach dem Sündenfall "versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens" (Gen 3,8). Die erste Frage Gottes verstummt nicht mehr. Zu jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: Wo bist du in der Welt? Diese Frage ist ganz persönlich gemeint. Gott ruft jeden bei seinem Namen. Mit dem "Wo" ist mehr als eine Ortsbestimmung gemeint: Wo bist du mit deinen Gedanken und Wünschen, deinen Sehnsüchten und Hoffnungen, deinen Plänen und Taten. Wir verstecken uns immer wieder, verlieren uns, zerstreuen uns, fliehen auf vielfältige Weise. Da ruft uns Gott: Wir sollen uns stellen, vor sein Antlitz treten, ihm auf seine Fragen antworten, denn wir sind verantwortlich.
Die Frage Gottes an uns geschieht meistens nicht so ausdrücklich und dramatisch, wie sie der junge Samuel erlebt: Er wacht dreimal vom Schlafe auf, weil "der Herr ihn rief". Und Samuel antwortet schließlich: "Rede Herr, dein Diener hört" (1 Sam 3). Um die Stimme Gottes, seine Fragen an uns zu vernehmen, bedarf es der Achtsamkeit. Alle Ereignisse und Erlebnisse eines Tages, froh machende und leidvolle, die Begegnungen mit verschiedenen Menschen, unsere Lektüre, die Informationen durch die Medien, die innere "Stimme" unseres Gewissens, vor allem Meditation und Gebet und das Hören auf das Wort der Heiligen Schrift -all das sind "Kanäle", durch die Gott sich an uns richtet.
Ohne aufmerksames und waches Hinhören und Nachdenken kann man die Stimme Gottes im hektischen Alltag leicht überhören und ihr entfliehen. Im Vorwort zur Regel des heiligen Benedikt heißt es: Stehen wir endlich auf; die Schrift weckt uns und sagt: "Die Stunde ist gekommen, vom Schlafe aufzustehen". Öffnen wir unsere Augen dem göttlichen Licht und hören wir mit erschrecktem Ohr, was die Stimme Gottes, jeden Tag uns mahnend, zuruft: "Wenn ihr heute seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht!"
Adam, wo bist du? Diese Frage Gottes an den Menschen geht schrecklich unter im Getöse von Krieg und Vernichtung. Der Rückblick auf das letzte Jahrhundert lässt einen schaudern. Der Philosoph Theodor Haecker notiert 1940 in seinen Tag- und Nachtbüchern: "Eine Weltkatastrophe kann zu manchem dienen. Auch dazu, ein Alibi zu finden vor Gott. Wo warst du, Adam? Ich war im im Weltkrieg."
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 15.11.2001