Fragen an Frank Richter, Mitbegründer der "Gruppe der Zwanzig"
Herbst 1989
Frank Richter war im Oktober 1989 Domvikar an der Dresdner Hofkirche und gehörte zu den Gründern der "Gruppe der Zwanzig", die im Namen der Dresdner Demonstranten Gespräche mit den Vertretern der damaligen Staatsmacht führte. Heute ist Frank Richter, geboren 1960, Pfarrer in Aue. Der Tag des Herrn fragte ihn - knapp zehn Jahre nach Beginn der Ereignisse, die das Ende der DDR herbeiführten - nach einer Bilanz:
Frage: Herr Pfarrer Richter, in den letzten Jahren hat es immer wieder Umfragen über die Befindlichkeit von Ost- und Westdeutschen gegeben (siehe Seite 19). Ein Ergebnis dabei: Ost und West entwickelten sich zunehmend auseinander, Ost- und Westdeutsche kehrten zur Abgrenzung voneinander eine eigene Identität stärker heraus, und die Ostdeutschen fühlten sich als "Bürger zweiter Klasse". Entspricht das Ihren Erfahrungen?
Richter: Bei allen Dissonanzen, diese Art Umfragen sollten einmal in Frage gestellt werden. Ich glaube, dass sie die vermeintlichen Ost-West-Gegensätze fixieren. Ich würde mir einmal eine Meinungsumfrage über die unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen oder zwischen Schleswig-Holstein und Bayern wünschen. Auch hier würde es wohl Unterschiede geben. Die inzwischen viele Jahre anhaltende Fixierung der Meinungsumfragen auf den Ost-West-Unterschied erscheint mir nicht hilfreich. Außerdem gibt es nicht "die" Ostdeutschen und "die" Westdeutschen, und es gibt nicht "die" ostdeutsche oder "die" westdeutsche Identität. Im Gespräch mit Westdeutschen habe ich erfahren, dass es vor 1989 eine westdeutsche Identität im heute unterstellten Sinne gar nicht gab. Damals hat man sich vielmehr zuerst bundesrepublikanisch verstanden und dann als Nord- oder Süddeutscher, als Saarländer, Holsteiner oder Bayer. Das schließt natürlich prinzipiell nicht aus, dass man nach verschiedenen Lebensgefühlen, Wertvorstellungen oder politischen Haltungen in den einzelnen Regionen fragen kann. Notwendig ist aber eine differenzierte Betrachtung
Frage: Heute ist die Situation anders, als es sich viele Ostdeutsche1989 erträumt haben. Haben die Ostdeutschen denn einen Grund, sich gegenüber den Westdeutschen zurückgesetzt zu fühlen?
Richter: Der unmittelbare Prozess der Wiedervereinigung 1989/90 war eine emotionale und historisch so bedeutsame Zeit, dass es wenig hilfreich ist, die heutige Situation daran zu messen. 1989 war für die Ostdeutschen ein großartiges Geschenk und eine großartige historische Leistung: Die Ostdeutschen haben sich selbst die demokratischen Verhältnisse erkämpft. Im Westen sind diese nach 1945 von den Alliierten vorbereitet worden. Die Deutschen im Osten haben damit eine demokratische Leistung vollbracht, die sie viel selbstbewusster machen müsste. Ich bedauere, dass dieses Selbstwertgefühl und dieses Selbstbewusstsein heute so wenig anzutreffen ist
Frage: Woran liegt das?
Richter: Es war nur eine Minderheit von Ostdeutschen, die 1989/90 wirklich revolutionär und mutig handelten. Die allermeisten haben abgewartet beziehungsweise sich rasch und chamäleonartig angepasst. Aufs Ganze gesehen, sollten wir dennoch von einer friedlichen Revolution sprechen. Den Begriff "Wende" benutze ich ungern. Er ist damals von Egon Krenz in die Diskussion gebracht worden, um den Veränderungsprozess in seiner Partei zu beschreiben. "Wende" scheint mir für die Ereignisse auch nicht angemessen, denn - und da sind sich die Historiker heute weitgehend einig -: Was 1989/90 passierte, war ein revolutionärer Vorgang mit einer gewaltigen Veränderungskraft, die allerdings friedlich erzeugt wurde
Frage: Trotz der historischen Leis-tung fühlen sich viele Ostdeutsche heute aber doch als Bürger zweiter Klasse. Wo sehen Sie Ursachen dafür?
Richter: Tatsächlich hatten und haben die Ostdeutschen in der neuen Bundesrepublik im Vergleich zu den "alten" Bundesbürgern erhebliche Nachteile. Diese betreffen unter anderem ihre ausbildungs- und arbeitsrechtliche Situation, ihre rechtliche, politische und soziale Kompetenz, die sie sich erst erwerben müssen, und den Stand - darüber wird natürlich selten öffentlich gesprochen - ihrer Vermögensbildung. Eine weitere Ursache dieses Gefühls sehe ich im arroganten und dümmlichen Verhalten mancher Westdeutscher gegenüber manchen Ostdeutschen. Man darf hier aber nicht verallgemeinern. Schließlich war es weithin nicht klar, dass Freiheit auch so viele negative Seiten mit sich bringt. Trotz allem möchte ich bei meinem Wunsch bleiben, die Ostdeutschen mögen ein größeres Selbstbewusstsein entwickeln. Früher, in der DDR, haben speziell die Christen ihre eigene Klasse auch nicht nach äußerlichen Vorteilen bemessen
Frage: Gibt es auch Ursachen, die in der Art und Weise liegen, wie die damals politisch Verantwortlichen den Weg der Wiedervereinigung beschritten haben?
Richter: Ich sehe drei Probleme. Erstens: Wenn der Zweite Weltkrieg von ganz Deutschland ausging, die deutsche Teilung ein Ergebnis dieses Zweiten Weltkrieges war und die entsprechenden Folgen von dem einen Teil Deutschlands in weitaus höherem Maße getragen werden mussten als vom anderen, ist der Ausgleich zwischen den beiden Teilen im jetzt wieder vereinten Deutschland nicht eine Frage der Solidarität, sondern eine Sache historischer Gerechtigkeit. Der Wiedervereinigungsprozess ist mir zu stark unter dem Begriff Solidarität abgelaufen. Solidarisch bin ich mit vielen Menschen in der Welt, und Solidarität ist ein Akt freiwilliger Anteilnahme. In Deutschland sollte man besser von historischer Gerechtigkeit sprechen
Zweitens: Im Einigungsvertrag finden sich Gerechtigkeitslücken. Das mag da-ran liegen, dass er in so kurzer Zeit ausgearbeitet werden musste. Beispielsweise hat das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" viele neue Unge- rechtigkeiten geschaffen und sich mit Blick auf den wirtschaftlichen Aufbau als hinderlich erwiesen
Schließlich drittens: Für viele Menschen ist die Schuldfrage mit Blick auf 40 Jahre sozialistischer Diktatur in der DDR völlig unzureichend geklärt. Kaum ein bedeutender Staats-, Partei- oder Stasi-Funktionär hat sich öffentlich zu seiner Schuld bekannt. Als Voraussetzung wäre allerdings auch nötig, dass ein Täter durch sein Schuld-Eingeständnis nicht ins gesellschaftliche Nichts zu sinken droht. Eine Gesellschaft muss einem reuigen Täter eine Perspektive geben, sonst schweigt er. Die gesellschaftliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist äußerst unbefriedigend
Frage: Hätte es andere Wege der Vergangenheits-Aufarbeitung gegeben?
Richter: Im Vergleich zu anderen Ostblock-Staaten ist es zunächst einmal ein Vorteil, dass die Akten der Staatssicherheit nicht vernichtet, sondern sogar öffentlich zugänglich gemacht worden sind. Eine große gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung zur Vergangenheitsbewältigung hat es in Deutschland aber nicht gegeben. Die Hauptanfrage dabei geht nach wie vor an die SED, die heutige PDS. Sie hat sich bis heute einer grundlegenden und tiefgreifenden Frage nach der Schuld verweigert. Die Schuldfrage bleibt unbeantwortet, solange die Schuldigen sie nicht selbst beantworten
Frage: Nun hat es ja in der DDR nicht nur SED-Funktionäre und Stasi-Spitzel gegeben. Nur wenige haben Widerstand geleistet. Die meisten haben mitgemacht, ihre Kompromisse geschlossen und so das System am Laufen gehalten. Mancher Westdeutsche hat deshalb prinzipielle Probleme im Umgang mit Ostdeutschen. Gibt es Wege, dass Ost und West sich hier besser verstehen?
Richter: Die Wahrnehmung der ost- und westdeutschen Realität erfolgt vor allem durch die Medien. Wenn die Medien versuchen, diese Fragen zu beantworten, lässt die Gründlichkeit der Auseinandersetzung meist zu wünschen übrig. Das Ergebnis ist grob und holzschnittartig. In dieser Hinsicht sind ARD und ZDF für mich immer noch Westfernsehen. Sie zeigen zu sehr den Blick des Westens auf den Osten. Ähnliches gilt für die grossen Nachrichtenmagazine - Spiegel und Focus. Ich hoffe, dass dieser Blick durch den Hauptstadtwechsel und den damit verbundenen Wechsel der Optik verändert werden kann. Wenn ich persönliche Gespräche über diese Fragen führe, gibt es eine große Chance zur Verständigung. Das setzt die Bereitschaft zum Zuhören voraus. Für die Ostdeutschen selbst ist es schwierig, ihre Biografie zu erzählen. Die eigene Lebensgeschichte unideologisch, unverkrampft und ohne Angst öffentlich darzustellen, das war in der DDR nicht üblich. Und so entdecken auch die Ostdeutschen selbst erst allmählich ihre eigenen Biografien und deren Vielfalt
Frage: Wie kann es im Prozess des Zusammenwachsens zwischen Ost und West weitergehen?
Richter: Für mich ist das vor allem eine Generationenfrage. Ich mache die Erfahrung, dass junge Leute, die die DDR und die alte Bundesrepublik nur noch aus dem Geschichtsbuch und vom Erzählen kennen, mit der Ost-West-Problematik relativ ungezwungen umgehen. Das drängendste Problem scheint mir die Arbeitslosigkeit zu sein. Und das verbindet inzwischen alle Deutschen. Auch hier sollte man nicht einen Ost-West-Gegensatz fixieren. Von der Politik wünsche ich mir in dieser Frage den Mut zu klaren Worten, zumal es wohl nie wieder ein solches Maß an Erwerbstätigkeit in Deutschland geben wird, wie das früher der Fall war
Von der Kirche wünsche ich mir, dass sie den hohen Prozentsatz der Ungetauften in den Blick nimmt. Viele Menschen im Osten haben schon in der zweiten oder dritten Generation den Kontakt zum Glauben verloren. Für sie brauchen wir als Kirche eine ganz neue Sprache und eine viel größere Offenheit. Den Kampf um die Wertvorstellung in den Köpfen hat unsere Kirche noch lange nicht intensiv genug angetreten. Dieser Kampf ist nur zu gewinnen, wenn man die neuheidnische Religiosität um uns herum zunächst wahrnimmt und nicht diskreditiert. Es braucht einen christlich-heidnischen Dialog auf gleicher Augenhöhe. Wenn die Kirche meint, zu den Siegern von 1989/90 zu gehören, die jetzt die Privilegien genießen können, die ihnen die Bundesrepublik einräumt, wird sie weiter an Glaubwürdigkeit verlieren
Interview: Matthias Holluba
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.08.1999