Im Keller lag das "Höllenbuch"
Künstler-Exerzitien
Dresden - Coco Wolf-Gediehn blättert die Seite in einem der "Zellenbücher" um. Jemand hat eine Frau darauf gemalt, die vor einem Betschemel kniet. 17 Künstlerinnen und Künstler stehen im Kreis um die Malerin und schauen gespannt, mit welchem Bild der Nächste auf der folgenden Seite geantwortet hat. Plötzlich prusten alle los. Die Seite ist mit Daunenfedern beklebt und darunter steht: "Erst betten, dann beten"
"Zellenbücher" haben die Maler diese 18 Packen loser Doppelseiten genannt, weil sie jedes von einem Einzelzimmer zum nächsten weitergegeben haben. Auf jeweils sieben Seiten sind so in unterschiedlichen künstlerischen Handschriften eine Art Tagebuch-Bilder von einer Woche strengsten Schweigens im Haus Hoheneichen bei Dresden entstanden
"Nur über unsere Bilder haben wir miteinander kommuniziert", erzählt Coco Wolf-Gediehn, Künstlerin aus Berlin. Initiator des Ganzen ist ihr Mann, der Maler Bernd Wolf. Seit zehn Jahren versammelt er jährlich einmal einen Kreis von Künstlern zu einem gemeinsamen Buch-Projekt. Die dabei entstehenden Unikate verkauft er dann über seinen Verlag Frankfurter Edition. Die Teilnehmer sind diesmal aus dem Westen der Bundesrepublik, aus Berlin und England gekommen. In einem Exerzitienhaus aber haben sie sich zum ersten Mal versammelt. Die Idee zu dieser ungewöhnlichen Synthese von Kunst und Spiritualität stammt von Klaus Simon. Der Holzbildhauer hat die Kapelle von Haus Hoheneichen gestaltet
Ein wenig belustigt hat er an sich und den anderen beobachtet, zu welchen Mitteln Menschen in der heutigen Kommunikationsgesellschaft greifen, die sich ein Schweigen auferlegt haben, wie es einst Ignatius von Loyola (1491-1556) zum wichtigsten Grundzug der Exerzitien erhob: "Einige haben in der Jurte ums Feuer gesessen und schriftliche Mails mit ihren Handys empfangen und versendet."
Auch eine regelrechte "Zettelwirtschaft", die jeder aus der Schulzeit kennt, sei entstanden, sagt Coco Wolf-Gediehn. "Man wird eben auch ein bisschen kindisch", fügt sie hinzu. "Das war hier ganz anders, als wenn ich bei der Arbeit allein im Atelier vor mich hin schweige", meint Bernd Wolf. "Die Gemeinschaft erzeugt einen kommunikativen Druck. Da ist Schweigen kein Genuß mehr, sondern harte Arbeit."
Die lief auch nach strengem Tagesablauf: Sieben Uhr Wecken mit der Zen-Flöte, die einer der Teilnehmer spielte. Vor dem Frühstück Vokalmeditation und eine Messe. Anschließend Hausputz als Dienst an der Gemeinschaft zur inneren Sammlung. Dann bis zum Mittagessen die erste Arbeitssitzung. Zum Tagesabschluss um 22 Uhr in der Kapelle Musik auf der Zen-Flöte. Und Jesuitenpater Christoph Kentrup als Hausherr und Leiter der Exerzitien las biblische Schöpfungsgeschichten dazu. "Auch für mich war das eine ganz neue Herausforderung", erzählt er. "Ich war gezwungen nachzudenken: Was lese ich da? Wie werden die anderen das empfangen?" Obwohl nur einige der Teilnehmer Erfahrungen mit Exerzitien und Meditation hatten, beeindruckte Pater Kendrup, mit welcher Disziplin sie diese Möglichkeit nutzten, "existenzielle Fragen zuzulassen". Wenn für den einen oder anderen der innere Druck zu groß wurde, stand Kentrup zum Gespräch zur Verfügung. Während des Schweigens sei ihr Denken immer wieder auch um bedrohliche Gedanken gekreist, sagt Annette Küchenmeister, die in Dresden an der Kunsthochschule studiert hat. "Der Teufel wohnte bei uns im Keller", scherzt Bernd Wolf. Dort lag das "Höllenbuch" aus, an dem jeder mit malen konnte. Ein meterlanges Papierband, bedeckt mit expressiven Zeichnungen. Auch das sei wichtig gewesen, meint Coco Wolf-Gediehn: "Für die abgründigen Anteile in uns."
Tomas Gärtner
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.09.1999