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Aus der Region

Das inständige Gebet wurde erhört

Gemeindezentrum für Tscheljabinsk

Tscheljabinsk - Nach über fünfjähriger Bauzeit wurde im sibirischen Tscheljabinsk am Fest Mariä Aufnahme in den Himmel die Pfarrkirche Mariä Unbefleckte Empfängnis"; konsekriert. Die Weihe nahm der Apostolische Administrator für die Katholiken in Westsibirien, Bischof Josef Werth, vor. In Verbindung mit dem Gotteshaus, das über 350 Sitzplätze bietet, ist auch ein Gemeindezentrum entstanden, in dem neben seelsorglicher auch karitativ-soziale Arbeit geleistet wird. Zudem hat hier das Deutsche Kulturzentrum eine Bleibe gefunden

Der Kirche ist bereits das dritte katholische Gotteshaus, das in den letzten 100 Jahren in der Stadt entstanden ist. Etwa um 1850 wurden viele Polen in den Ural und nach Sibirien verbannt. Polnische Katholiken erbauten um die Jahrhundertwende erst eine Holzkirche und von 1911 bis 1914 eine beeindruckende zweitürmige Kirche im neugotischen Stil. 1932 wurde sie unter Stalin wie fast alle orthodoxen Kirchen der Stadt und tausende Gotteshäuser im ganzen Land abgerissen. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurden Millionen von Menschen aus deutschen Siedlungsgebieten in die Arbeitslager des Urals und Sibiriens gebracht, unter ihnen viele Christen. Sie versammelten sich in kleinen Gruppen heimlich zum Gebet, gelegentlich besuchte sie einer der wenigen Priester. 1982, noch unter der Sowjetherrschaft, gelang es den Katholiken, mit Mut und Ausdauer und einigen Tricks, ein kleines Häuschen zu erwerben und zu einem Bethaus"; umzubauen

Zehn Jahre später wurden die inständigen Gebete der Großmütter erhört: 1992/1993 kamen vier Priester aus drei deutschen Diözesen nach Tscheljabinsk, um die Katholiken der Stadt und im weiten Umkreis seelsorglich zu betreuen (Wilhelm Palesch und Lucian Gehrmann, Bistum Erfurt; Reinhard Franitza, Bistum Hildesheim; Peter Danisch, Bistum Magdeburg). Ein Jahr später folgten vier Schwestern von der Kongregation der heiligen Agnes aus den USA. Der Wunsch, eine richtige Kirche zu bauen, wurde in der Gemeinde immer lauter. Ein Projekt des süddeutschen Architekten Franz Wesinger wurde angenommen, der es kostenlos zur Verfügung stellte. Im Oktober 1993 war der erste Spatenstich

Der Bau der neuen Pfarrkirche war mit großen Schwierigkeiten verbunden: Zum einen wurden Gotteshaus und Gemeindezentrum aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen in Russland viermal so teuer wie vorgesehen. Zum anderen verzögerte sich der Innenausbau erheblich, weil eine Kommission in Moskau, die dringend benötigte Materialien aus Deutschland als humanitäre oder technische Hilfe anerkennen sollte, fast ein Jahr nicht entscheidungsfähig war. Am 1. August 1998 konnte die Gemeinde aus dem Bethaus";, das nun der evangelischen Gemeinde gehört, in das neue Kirchengebäude umziehen, zunächst allerdings nur die Kapelle im Chor- und Turmbereich nutzen. Am 15. August diesen Jahres nun konnte der Bau seiner Bestimmung übergeben und geweiht werden

Der Weihe ging eine Festwoche mit Vorträgen, Predigten und musikalischen Darbietungen voraus, die die Gemeinde und ihre Gäste auf das Ereignis einstimmten. Zur Kirchweihe der Pfarrkirche kamen dann mehr als 1000 Menschen, darunter etwa 30 Priester, viele Gäste und Wallfahrer aus anderen Gemeinden des Ural und Sibiriens, aus dem europäischen Russland, aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Polen, Vertreter anderer religiöser Gemeinschaften, darunter der Mufti der islamischen Gemeinde, der jüdische Rabbi, Vertreter der Stadt- und Stadtbezirksverwaltung, nicht zuletzt Gemeindemitglieder aus Dörfern und Städten des Tscheljabinsker Gebietes, die stundenlange Busfahrten auf sich genommen hatten. Leider fehlten Vertreter der orthodoxen Kirche. Die Entscheidung des zuständigen Ortsbischofs entspricht der zur Zeit von Moskau ausgehenden Linie. Auch manche orthodoxe Priester und Gläubige bedauern das, besonders diejenigen, mit denen wir in freundschaftlichem Kontakt stehen

Die Kirche selbst sowie der Turm haben im Grundriss die Form eines Sechsecks, entsprechend der Absicht des Architekten, den Eindruck eines Kristalls entstehen zu lassen. Der ebenfalls sechseckige Altar aus weißem Ural-Marmor steht im Zentrum des lichten, hohen Raumes. Die Mauern des Turmes umschließen in sechs übereinander liegenden Ebenen Gemeinderäume, die Sakraments- und Wochentagskapelle sowie Wohnräume für die Priester. Das Gebäude mit den zwei unterschiedlich hohen, jeweils von einem Kreuz gekrönten Spitzen stellt inmitten der eintönigen Plattenbauten des Wohngebietes ein weithin sichtbares schmückendes Element dar

Im Inneren lenken ein großes Bild des Erzengels Michael und die von einer Frau aus der Gemeinde gemalten Ikonen der Mutter Gottes und des heiligen Nikolaus von Flüe die Aufmerksamkeit auf sich. Ebenfalls eigens für die Tscheljabinsker Kirche gestaltet wurden vom Wiener Künstler Vinzenz Schreiner ein sehr ausdrucksstarker Kreuzweg, eine Pieta sowie Krippenfiguren, und zwar in Ton gebrannt. Zur Ausstattung gehört auch eine moderne elektronische Orgel mit Pedal und zwei Manualen, deren Klang von dem einer Pfeifenorgel fast nicht zu unterscheiden ist

Die Gemeinde selbst hat in den letzten Jahren einen großen Wandel erlebt. Vor sechs Jahren bestand sie überwiegend aus älteren russlanddeutschen Frauen. Heute sind es Menschen jeden Alters, auch Jugendliche, junge Familien, Menschen auf der Höhe des Lebens, zum Teil rein russischer Abstammung, zum Teil mit russlanddeutschen Vorfahren, aber deutsche Sprache und Kultur ist bei den meisten kaum mehr vorhanden

In der Millionenstadt Tscheljabinsk, vor allem im Metallurgie-Bezirk, in dem die Kirche steht, hat sich besonders in den letzten Monaten die Aufmerksamkeit und das Interesse der Öffentlichkeit der katholischen Kirche zugewendet. Da es hier sonst selten Ausländer gibt, werden die Priester und die Schwes-tern oft auf dem Markt und in den Geschäften angesprochen. Es besteht in der Bevölkerung ein ausgesprochen warmes Interesse, wie die Seelsorger bestätigen. Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen berichten immer wieder über die Gemeinde und einzelne Aspekte des kirchlichen Lebens

Die Kirche steht an einer Stelle, wo vor wenigen Jahrzehnten Baracken der Arbeitslager standen. Menschen waren aus ihrer Heimat von ihren Angehörigen getrennt, hierher verschleppt und eingesperrt worden und litten unsäglich. Die Gläubigen hoffen, dass das neue geistliche und gleichzeitig kulturell-soziale Zentrum dazu dienen möge, Hass und Gewalt, die auch heute immer wieder die Überhand zu gewinnen scheinen, überwunden werden und Gottes Friede in viele Herzen einzieht.
P.Danisch

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 37 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.09.1999

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