Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!
Aus der Region

Geflohen vor dem sicheren Tod

Woche der ausländischen Mitbürger

Magdeburg - Sein neu erbautes Haus in Bagdad musste Kamil Shoris mit seiner Familie vor drei Jahren Hals über Kopf verlassen. Kurz zuvor war sein älterer Bruder im Gefängnis gehenkt worden. Wegen seines Engagements in der verbotenen christlichen Partei war der Bruder bereits einige Zeit zuvor inhaftiert worden. Kamil Shoris war anders als sein Bruder ein eher passives Mitglied der Partei, die in Opposition zur Politik des irakischen Diktators Saddam Hussein steht. Dennoch war sein Name bei der Polizei bekannt. Mehrfach war er auf der Straße aufgegriffen und geschlagen worden. Drei Tage lang hatte auch er im Gefängnis verbracht. Nach dem Tod des Bruders erhielt er eine Vorladung zu einem Gerichtstermin. Ein Bekannter, der Beziehungen in Polizeikreise hatte, warnte ihn, dass auch sein Tod bereits geplant sei. Da musste alles ganz schnell gehen. Auf ihrer Flucht über Kurdistan in die Türkei und von dort weiter nach Deutschland konnte die Familie nichts weiter mitnehmen als einen Stoß Familienfotos

Drei Monate lang teilten sich Evlin und Kamil Shoris mit ihren vier Kindern ein Zimmer in der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Sachsen-Anhalt für Flüchtlinge in Halberstadt, dann bekamen sie vorübergehend eine kleine Wohnung in Staßfurt. Seit beinahe zwei Jahren leben sie nun in Magdeburg.

Neu war für die Kinder in Deutschland nicht nur der Schnee, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatten, berichtet der älteste Sohn Amar. Auch das Wohnen in einem Mietshaus war eine große Umstellung. In Bagdad besaß die Familie ein großes, dreistöckiges Haus. Wohnblöcke sind in dieser Stadt eher die Ausnahme, erzählt Amar. Familie Shoris hat eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten, die sie in einem Gefühl der relativen Sicherheit in Deutschland leben lässt. Das so genannte "kleine Asyl" muss alle zwei Jahre verlängert werden und gilt so lange, wie die politische Lage im Irak eine Rückkehr nicht erlaubt

Fremd habe sie sich in Deutschland nur am Anfang gefühlt, erzählt Nagam Shoris. Das Heimweh sei verflogen, als ihre Deutschkenntnisse besser wurden und sie deutsche Freundinnen fand. Derzeit bereitet sich die aufgeweckte 21-Jährige in Halle auf ein Medizinstudium vor. Auch für die kontaktfreudigen jüngeren Geschwister bietet die Schule zahlreiche Möglichkeiten, deutsche Kinder kennenzulernen. Die deutsche Sprache lernen sie dabei fast nebenbei. Ihre Eltern haben es da schwerer

Die Mutter ist von jeher Hausfrau, der Vater hat bisher in Magdeburg keine Arbeit gefunden. Dabei bringt er aus dem Irak vielfältige berufliche Erfahrungen mit: Nach einem Studium der Bibliothekswissenschaften hat er unterschiedliche Berufe ausgeübt, manchmal sogar zwei oder drei gleichzeitig: Er war Gastwirt, Restaurant- und Hotelbesitzer, Getränkegroßhändler und Buchhalter. Arbeitslos zu sein, fällt dem 46-Jährigen nicht leicht. Im Irak gab es bis zum Wirtschaftsembargo, das in Folge des Golfkrieges verhängt wurde, fast keine Arbeitslosen. Dennoch hat sich Kamil Shoris anders als mancher deutsche Arbeitslose seine Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit bewahrt. Groll empfindet er nicht angesichts seiner derzeitigen Lage, auf die er sich innerlich bereits vorbereitet hatte

Deutschland fand er so vor, wie es ihm Verwandte beschrieben haben, die einige Jahre vor ihm nach Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein geflüchtet waren: "Die meisten Menschen sind nett und freundlich, es gibt gute Schulen, Arbeit ist schwer zu finden, jedoch müssen Arbeitslose nicht hungern." Kamil Shoris setzt seine Hoffnung ganz in die jüngere Generation, in die Tochter Nagam, die Ärztin werden will, den 17-jährigen Amar, der nach Abschluss eines Berufsvorbereitungsjahres im Metallbereich eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker beginnen möchte, und die beiden Jüngsten, die mit ihren Schulzeugnissen bisher ebenfalls keinen Anlass zur Sorge geben. "Nesthäkchen" Melad überrascht die Familie immer wieder mit kleinen "Erfindungen" und einfallsreichen Bastelarbeiten

Verbindungen haben Kamil und seine Frau vor allem zu anderen Flüchtlingen aus dem Irak - die meisten von ihnen sind Kurden - und zu Gemeindemitgliedern der katholischen St.-Sebastian-Kirche, der sie angehören. Doch auch in der Gemeinde erfahren sie die fehlenden Sprachkenntnisse als Barriere, die sie zum Beispiel hindert, sich einem Familienkreis anzuschließen. Wie in der Schule haben es hier die Kinder leichter. Die beiden Jüngeren nehmen am Religionsunterricht der Gemeinde teil, die 13-jährige Reta ist erst vor kurzem zur Erstkommunion gegangen

Mit einer Rückkehr in den Irak rechnet Familie Shoris nicht. Zu unwahrscheinlich ist derzeit, dass sich in absehbarer Zeit ein Politikwechsel vollzieht. Unter der jetzigen Regierung wäre ein Leben in Bagdad für sie absolut unvorstellbar. Außerdem ist Kamil Shoris realistisch: "In sieben, acht Jahren werden die Kinder die Sprache verloren haben." Dies würde einen Neuanfang im Irak zusätzlich erschweren.

Zu Hause spricht die Familie nach wie vor aramäisch, die Sprache der christlichen Minderheit im Irak, die auch Jesus von Nazareth gesprochen hat. Die Landessprache arabisch haben sie nur in der Schule und bei Behörden verwendet. Nicht nur die Sprache, auch die köstlichen Spezialitäten aus der Küche von Mutter Evlin verbindet die Familie noch mit der Heimat

Die christlichen Feste haben sie in Bagdad mit ähnlichem Brauchtum gefeiert wie die Deutschen: Weihnachten mit geschmücktem Christbaum, Ostern mit bemalten Eiern, aber auch - anders als hierzulande - mit einer fröhlichen Party, bei der getanzt wird. Deutschen Kirchweihfesten vergleichbar sind die Feste, die einmal im Jahr mit Tanz, frohem Gesang und vielen Gästen in jedem irakischen Kloster gefeiert werden. Im Mai gibt es im Irak das "Wasserfest", das Angehörige aller Religionen, die ansonsten nicht immer spannungsfrei zusammenleben, gemeinsam feiern. Auf der Straße bespritzt man sich gegenseitig mit Wasser und bereitet sich so im wüstenähnlichen Klima der Stadt Bagdad eine wohltuende Erfrischung

Der Informationsaustausch mit Verwandten, die in Bagdad geblieben sind oder in einem christlichen Dorf im Norden des Landes, aus dem die Familie ursprünglich kommt, läuft für Familie Shoris nur schleppend und hängt oft vom Zufall ab. Von fünf, sechs Briefen, die sie nach Bagdad schicken, kommen nur ein oder zwei an. In Anbetracht der anhaltenden staatlichen Bedrohung lebt die Familie Shoris deshalb in ständiger Sorge um die Verwandten. Ein Neffe ist erst vor einem Jahr der bevorstehenden Verhaftung entkommen und lebt seither in Deutschland. In Augenblicken der Besorgnis fällt der Blick der beiden Eltern manchmal auf eine kleine Plastik, die früher in ihrem Bagdader Wohnhaus stand. Verwandte haben ihnen die Darstellung der Heiligen Familie nachgeschickt, und heute steht sie in der Schrankwand ihres Magdeburger Wohnzimmers. Die Plastik ist für sie nicht nur ein Erinnerungsstück, sondern wohl auch Symbol für die Religion, der sie trotz mancher Widrigkeiten treu geblieben sind, und die ihnen Kraft und Trost gibt. Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 38 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.09.1999

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps