Interview mit Bischof Reinelt
Bischofssynode
Vom 1. bis 23. Oktober findet in Rom eine Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa statt. Unter den rund 200 Teilnehmern ist auch der Dresdner Bischof Joachim Reinelt. Der Tag des Herrn sprach mit ihm:
Frage: "Jesus Christus, der lebt in seiner Kirche - Quelle der Hoffnung für Europa" heißt das Thema der Bischofssynode. Die Vorbereitungspapiere ziehen teilweise eine ernüchternde Bilanz der Lage der Kirche in Europa. Haben Sie denn Hoffnung für die Zukunft der Kirche?
Reinelt: Wenn wir in Europa keine Hoffnung mehr hätten auf den, der die Quelle der Hoffnung ist, dann könnten wir einpacken. Ich habe Hoffnung, denn die Menschen sind offen für die christliche Botschaft, auch wenn sie nicht zur Kirche gehören. Viele Menschen sind auf der Suche. Das ist für uns als Kirche ein wesentlicher Anknüpfungspunkt. Die Türen sind nicht zu, aber für viele ist es schwer, die Schwelle zu übertreten
Frage: In den Vorbereitungspapieren der Synode heißt es, dass das durchaus bestehende religiöse Bedürfnis keineswegs zu einem Wachsen des christlichen Glaubens führe, sondern zu einer Flucht in die Esoterik und andere "wirre" religiöse Angebote. Erreicht die Kirche mit ihren Antworten den Menschen von heute nicht mehr?
Reinelt: Wir müssen kritisch eingestehen, dass unsere Antworten vielen Menschen unbekannt sind und dass es uns als Kirche in einer pluralen Gesellschaft schwerfällt, für jeden die Antwort zu haben, die ihn in der richtigen Stunde trifft
Meines Erachtens besteht das Problem aber vor allem darin: Der Mensch von heute hat Angst vor Bindungen. Zwei gewaltige, großspurige Systeme haben in unserem Jahrhundert versucht, den Menschen total zu vereinnahmen. Die Menschen sind vorsichtig geworden gegenüber allem, was sie total in Anspruch nehmen will. Gott aber beansprucht den ganzen Menschen. Klar zu machen, dass der Mensch die größte Freiheit erreichen kann, wenn er sich ganz an Gott hingibt - das ist die Schwierigkeit
Frage: Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken. Vorausgesetzt, die Kirche versteht die angesprochenen Chancen zu nutzen, glauben Sie, dass sie im nächsten Jahrtausend in Europa dieselbe Rolle spielen wird, die sie als Volkskirche in diesem Jahrtausend gespielt hat?
Reinelt: Zunächst muss man ganz nüchtern feststellen: Diejenigen, die heute aus der Kirche austreten, sind doch schon lange draußen. Letztlich sind es finanzielle Gründe, die zum Austritt führen: Man zahlt auch keinen Mitgliedsbeitrag in einer Partei, wenn man deren Meinung nicht mehr vertritt. Ich glaube auch nicht, dass Volkskirche etwas unbedingt Erstrebenswertes ist, denn sie hat ja auch etwas Negatives: Volkskirche heißt, die Massen strömen in die Kirche, obwohl viele innerlich gar nicht davon überzeugt sind. Was wir im nächsten Jahrtausend brauchen, sind Christen, die überzeugend aus ihrem Glauben leben. Wie viele das sind, ist eine zweitrangige Frage
Frage: Die Synode wird sich auch mit der Lage der Kirche in den einzelnen Regionen Europas beschäftigen. Wie schätzen Sie die Situation für den Osten Deutschlands ein?
Reinelt: Unsere Situation ist eine besondere, vielleicht eine in der Welt einmalige: Bei uns ist die unentschiedene Loslösung von der Kirche am intensivs-ten. Das heißt, viele Menschen im Osten Deutschlands haben sich nicht bewusst gegen Glaube und Kirche entschieden. Sie können das gar nicht, weil sie von der Kirche und ihren Inhalten noch nie etwas gehört haben
Deshalb müssen wir als Kirche bei der Begegnung mit den Menschen um uns herum auch die Fragen ganz anders stellen. Wir können nirgendwo anders anknüpfen als bei den Urfragen des Menschen: Bin ich ein Zufallsprodukt dieser unendlich langen Entwicklung? Hat mein Leben einen inneren Sinn? Gibt es da etwas, was meine engen Grenzen überschreitet? Was hat das Hier und Heute mit mir zu tun? Ist Religiös-Sein eine Bereicherung oder ist es nur eine Inpflichtnahme? Ist das Leben eines Christen wirklich besser
Frage: Hat sich die Kirche im Osten Deutschlands in den letzten zehn Jahren auf den Weg gemacht, den Menschen Antworten auf diese Fragen zu geben?
Reinelt: Wir sind noch zu wenig auf diesem Weg. Einige bemühen sich ehrlich und intensiv. Das sind oft diejenigen, die bekennen, dass auch wir als Christen auf dem Weg, auf der Suche sind. Wer dagegen sagt: Hier, ich habe es, ich bin mir der Sache sicher, der ist relativ untauglich für die Evangelisierung heute
Frage: Können Sie ein konkretes Beispiel für Evangelisierung im Osten Deutschlands nennen?
Reinelt: Kürzlich war ich in einem winzigen Dorf in der Nähe von Berlin. Dort gibt es eine Fazenda del Esperanca, einen Hof der Hoffnung. Diese Ini-tiative kommt aus Brasilien. In den dortigen Fazendas kümmern sich Franziskaner und Fokolare um drogenabhängige Jugendliche. Sie sorgen sich um die Letzten der Letzten, um diejenigen, die im tiefsten Dreck gelandet und am Ende mit ihrem Leben sind
Die Fazenda bei Berlin - das war ein völlig heruntergewirtschafteter DDR-Bauernhof. Auch dort haben drogenabhängige Jugendliche Aufnahme gefunden und sind von ihrer Abhängigkeit geheilt worden. Ganz wichtig dafür ist die Zuwendung, die die Jugendlichen aus dem Geist des Evangeliums erfahren, vor allem auch von den Jugendlichen, die inzwischen von ihrer Abhängigkeit geheilt sind und noch auf dem Hof leben. Da sind eine ganze Reihe Nichtchristen dabei. Ich habe mit ihnen gesprochen: Sie sind froh und glücklich, am liebsten wollen sie gar nicht mehr weg, denn: Sie haben aus dem christlichen Geist etwas ganz Neues in ihrem Leben entdeckt. Und das wollen sie jetzt weitergeben, deshalb bleiben sie und helfen denen, die neu auf die Fazenda kommen. Solche Initiativen brauchen wir. So etwas ist ein Signal
Das sind die Chancen, von denen ich sprach: Es ist nicht aussichtslos. Mein Problem ist nur: Wir sind wenige und der Bedarf ist groß. Wir bräuchten viele in den Gemeinden, die begreifen: Jetzt sind wir dran. Diese Explosion nach außen - das fehlt mir manchmal
Frage: Gravierende Defizite werden in den Vorbereitungspapieren in Bezug auf die persönliche Frömmigkeit festgestellt. Vor welchen Herausforderungen steht der einzelne Christ an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend?
Reinelt: Die erste Herausforderung für jeden ist das Leben aus dem Wort Gottes, das Leben in der Wirklichkeit dieses kostbaren Schatzes
Aus dem Glauben muss dann der missionarische Drang erwachsen: Ich habe etwas, das kann ich nicht verheimlichen, das muss ich weitergeben. Wenn ich predige, nehme ich mir immer vor, konkrete Beispiele zu erzählen, sozusagen als Beweis. Oft glauben die Leute ja, dass der Glaube heute gar nicht mehr so richtig gelebt werden kann. Die Forderungen sind viel zu hoch, das kann man doch gar nicht machen, heißt es schnell. Wenn ich hier in Dresden sage, kümmert euch doch mal um die Jugendlichen, die sich am Hauptbahnhof ihren Schuss setzen, dann heißt es: Herr Bischof, Sie haben vielleicht Vorstellungen, das geht nicht so einfach. Wenn ich aber erzähle, dass das dort in der Nähe von Berlin schon so und so gemacht wird, könnte der ein oder andere ja auf die Idee kommen, das auch hier auszuprobieren
Frage: Welche Hilfen erwarten Sie von der Synode?
Reinelt: Zuerst einmal können die Erfahrungen der Kirche in den einzelnen Ländern uns gegenseitig bestärken. Der Austausch dieser Erfahrungen findet auf der Synode statt. Und da sind die Pausengespräche genau so wichtig, wie die offiziellen Papiere
Außerdem werden wir darüber beraten, welche Hauptakzente wir als Kirche in Europa für die Zukunft setzen müssen. Das können wir zwar in den drei Wochen nur anstoßen, aber Sy-noden sollen ja etwas in Gang setzen, was sich dann - oft erst nach Jahren - auswirkt. Es wäre falsch zu erwarten, dass ich ein fertiges Rezept in der Tasche habe, wenn ich von Rom zurückkomme
Frage: Welche Akzente könnten das denn sein?
Reinelt: Einiges lässt sich aus den Vorbereitungspapieren schon erkennen:
Da ist zunächst einmal das, was der Theologe Karl Rahner meinte, als er sagte: "Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein." Was ist ein von der Mystik der Kirche bestimmtes Leben? Was ist der Kern, den wir nicht verpassen dürfen, weil sonst alles Drum und Dran sinnlos wird?
Das Zweite ist die Gemeinschaft in der Gegenwart Christi. Das war die große Entdeckung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Theoretisch ist uns das klar, aber was heißt das praktisch, zum Beispiel für unsere Familien. Wir beten "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast ..." Aber was ist damit gemeint?
Ein weiteres, wesentliches Element ist das Zeugnis der Nächstenliebe. Kirche ist immer konkret. Wo Not ist, ist Kirche. Hier wird es also um das karitative Element gehen. Bei uns in Deutschland ist das gut entwickelt, steht aber auch in der Gefahr, in einer Superorganisation unterzugehen
Frage: Die Synode ist auch eine Begegnung zwischen Vertretern der Kirche aus Osteuropa und Westeuropa. Was können die Kirchen in Ost und West voneinander lernen?
Reinelt: Die Kirche im Westen, die Kirche im Wohlstand kann aus den Erfahrungen der verfolgten Kirche lernen. In Russland, Rumänien, Tschechien, der Slowakei, auch in Ungarn gibt es heldenhafte Geschichten. Diese Schätze werden oft viel zu spät gehoben. Sie müssen jetzt an den Tag, solange sie noch einen aktuellen Bezug haben
Vor einer zweiten Frage stehen wir als Kirchen im Ost und West gemeinsam, auch wenn wir verschiedene Erfahrungen gemacht haben: Dieses Jahrhundert wollte eines der freiesten und fortschrittlichsten sein und doch hat es die schlimmsten Großverbrechen zustande gebracht. Was sagt uns dieses Jahrhundert? Welche Chancen haben wir Chris-ten vor diesem Hintergrund?
Und schließlich kann der Osten vom Westen etwas lernen: Die Kirche im Westen scheint mir in der Auseinandersetzung mit der pluralen Gesellschaft viel beweglicher und offener zu sein. Dort ist man viel geduldiger und gelassener. Wir im Osten sind da sehr viel aufgeregter. Ein bisschen Gelassenheit würde uns gut tun, auch wenn wir aufpassen müssen, dass wir nicht gleichgültig werden. Interview: M. Holluba
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 03.10.1999