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Aus der Region

Nichts ist gesichert

Zum 25. Todestag von Marie Luise Kaschnitz

Für die persönliche und literarische Entwicklung der Dichterin Marie Luise Kaschnitz waren zwei Erschütterungen bedeutsam: der Zweite Weltkrieg und 1958 der Tod des geliebten Mannes. Den Zusammenbruch des verabscheuten Faschismus, die Not in den zerstörten Städten sowie die Chance des Neubeginns haben sie zutiefst erschüttert und zugleich mit Hoffnung erfüllt. In dem großen Gedicht "Rückkehr nach Frankfurt" (l947) heißt es: "Nun bin ich aufgenommen und das heißt, / Daß ich ein Teil bin und dazugehöre."

Die aus adliger Familie stammende, mit einem Archäologie- Professor verheiratete Dichterin war Zeitgenossin geworden und wurde es immer mehr. Der Tod des Mannes stürzte sie in eine erneute Krise. Sie musste sich der eigenen Grundlagen versichern, und sie musste es diesmal allein tun. "In meinem Gedächtnis wohnst Du / Mein Leib ist dein Haus / Mir aus den Augen siehst du den Frühling / Noch immer die rote Kastanie. / Ihr sollt in mir sehen / Einen von zweien / Und hinter meinen Worten / Unruhig horchen /Auf die andere Stimme", heißt es in dem Gedichtband "Dein Schweigen - meine Stimme" aus dem Jahr 1962. Im darauffolgenden Jahr erschien das Buch "Wohin denn ich". Darin erzählt sie von der Zeit nach dem Tod ihres Mannes, als sie allmählich wieder ins Leben findet. Sie verbindet Mitteilungen über sich selbst mit Betrachtungen über die Gesellschaft. Diese Verbindung zwischen Privatem und Öffentlichem, auch Politischem, wurde immer stärker - "Tage, Tage, Jahre" (1968) - und erreichte den Höhepunkt in dem Band mit kurzen Prosastücken "Steht noch dahin" (1970). Er war ganz der Gegenwart gewidmet. Von den früheren Ausdrucksformen waren Gefasstheit, Diskretion und Zurückhaltung geblieben. Das Leben, die Liebe und der Fortbestand der Menschheit waren für die Dichterin nicht gesichert. Immer wieder gestaltete sie den Einbruch des Grauens, des Unheimlichen in die normale Welt. Das macht das Besondere ihrer Erzählungen sowie ihrer Hörspiele aus. Sie fühlte sich denjenigen, die vor den Kirchentüren standen, näher als denen, die ihre festen Plätze in den Kirchenbänken hatten. Auch den Glauben hat sie nicht als gesicherten Besitz betrachtet, sondern als stets gefährdet und immer neu zu erringen

Wie in den Erzählungen hat sie auch in den Gedichten eine Verbindung zwischen herkömmlichen Formen und modernen Ausdrucksmitteln gefunden. Dadurch bleiben die Gedichte auch Menschen verständlich, die zu moderner Lyrik wenig Zugang haben. Jürgen Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 40 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 10.10.1999

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