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Aus der Region

Gemeinschaft von damals soll weiterleben

10 Jahre Wende

Leipzig - "Wir sind das Volk!" - "Gorbi, Gorbi!" - Die schneidenden Rufe des Sprechchores von der Empore verfehlen ihre Wirkung nicht. Stille. Ergriffenheit. Auf der großen Leinand über dem Altar prangt ein Schwarz-Weiß-Dia, das einen mächtigen Menschenstrom in der Leipziger Innenstadt zeigt. Transparente mahnen stumm: Keine Gewalt

Zehn Jahre nach der friedlichen Revolution werden in der katholischen Propsteikirche in Leipzig noch einmal die Ereignisse jenes 9. Oktober 1989 lebendig. Mit Bildern und Texten werden die Besucher zu Beginn des zentralen Erinnerungsgottesdienstes für die Leipziger Katholiken in den turbulenten Herbst 89 zurückgestoßen. Dort angekommen, bleiben sie - wie schon damals - nicht allein. "Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!", singt der Props-tei-Chor

Erinnerung und vor allem Danksagung - das war das Anliegen des Gottesdienstes. "Wir glauben daran, dass Gott uns nicht nur in den Zeiten der DDR geführt hat, sondern auch durch die Wendezeit und die Jahre danach. Dafür möchten wir danken", sagt Propst Lothar Vierhock. Auch Friedrich Magirius, zur Wendezeit einer der beiden Leipziger Superintendenten, ist überzeugt, dass das Beten und die Gemeinschaft die Menschen während der Wende getragen haben. "Hilfe kann nur von ihm kommen. Das haben damals irgendwann auch die Letzten begriffen.", betonte er in seinem Grußwort. Und: Er wünsche sich, dass diese Gemeinschaft weiter lebt - egal, ob es sich dabei um zwei verschiedene Kirchen handelt

In seiner Predigt bezeichnete Günther Hanisch - 1989 war er Propst in Leipzig - den Erinnerungstag an die Wende als eine Rast auf dem Weg der Umkehr, auf dem Weg der Hinwendung zu Gott und den Mitmenschen. Hanisch würdigte nicht nur die friedlichen Revolution, er ging auch ein auf die Verbindlichkeiten, die für die Menschen daraus entstanden. "Freiheit hat zwei Seiten. Frei sein von etwas - da fiel die Entscheidung leicht. Aber Freiheit für etwas -das ist sehr anspruchsvoll", sagte der Alt-Propst. Freiheit ohne Bindung an Menschen und Werte werde zu Willkür und Tyrannei. Resignation und Aggression zehn Jahre nach dem Mauerfall seien Ergebnisse geplatzter Illusionen der Menschen. "Nur die wirkliche Hoffnung vermag Probleme zu lösen."

Worauf nicht nur die Leipziger Katholiken hoffen dürfen, erläuterte Professor Eberhard Tiefensee thesenartig in einem Podiumsgespräch nach dem Gottesdienst. Der ehemalige Leipziger Studentenpfarrer, der heute an der Theologischen Fakultät Erfurt tätig ist, stellte seine Zukunftsperspektiven für ein Zusammenleben der Menschen vor. Zentrales Thema dabei: Das Bewusstsein der eigenen Biografie und die Akzeptanz der Verschiedenheit der Menschen. Als ein Netz mit Knoten und Verbindungen sieht Tiefensee die künftige Gesellschaft. Die eigenständigen und festen Knoten seien die Menschen, die einander ihre Geschichte erzählen. "Nach 1945 haben viele Deutsche ihre Biografie verdrängt. Aber eine Identität ist nur möglich, wenn jemand seine Geschichte erzählen kann. Dann lernt er den anderen schätzen", sagte der Theologe. Gut sei, wenn in der Biografie dann noch Gott als zentraler Punkt vorkomme. Und dieser Gott liebe nicht einfach alle - "nach dem Rasenmäherprinzip" - sondern jede und jeden. "Wir müssen lernen, die Verschiedenheit der Menschen zu akzeptieren. Einheit bedeutet nicht Uniformität, sondern die Vereinigung unverwechselbarer Verschiedenheiten", sagte Tiefensee

Die Kirche im Osten werde in Zukunft kleiner und müsse aufpassen, dass sie nicht übersehen werde, betonte Tiefensee. "Nicht nur Offenheit sondern auch ein klares Profil sind notwendig." Zu den Aufgaben der Kirche gehöre in Zukunft nicht nur das soziale Engagement. "Das können andere auch. Wir müssen aufpassen, dass sich der Horizont nicht schließt. Wir sind die Gotteserfahrenen."

Markus Tichy

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 41 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.10.1999

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