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Aus der Region

Altbischof Huhn erinnert an Gründergestalten

Priesterseminar Neuzelle

Neuzelle - "Neuzelle, Kreis Stalinstadt" - das war für uns drei Theologiestudenten das Ziel unserer Reise. Am 1. September 1953 kamen wir mit uralten klapprigen Motorrädern, einer NSU Jahrgang 1932, einer italienischen Lambretta und einem Fahrrad mit Hilfsmotor, nach langer Reise aus dem Westen endlich im Priesterseminar Bernardinum in Neuzelle an der Oder an, um - langersehnter Wunsch - den Rest unserer Ausbildung abschließen und dann als Priester in der DDR wirken zu können

Stolz waren wir auf unsere Fahrzeuge, denn nur wenige Seelsorger besaßen damals einen PKW oder ein Motorrad. Es fehlte ja noch an Vielem. Es gab kaum Baumaterial oder technische Geräte. Butter, Zucker und Fleisch erhielt man auf Marken, Apfelsinen drei Stück zu Weihnachten pro Person

Es war überhaupt ein großes Glück, dass wir, reichlich 50 Studenten, in die DDR einreisen durften. Dieses Glück hatte uns der Volksaufstand des 17. Juni 1953 bewirkt. Wenn es den Kommunisten dann und wann Angst wurde, gab es ein wenig "Zuckerbrot", aber nur auf Zeit und soviel wie gerade nötig

So standen wir nun vor der Tür des Priesterseminars, müde von der Reise, in großer Erwartung und auf alles gefasst. Es empfing uns der Regens des Seminars, Dompropst Dr. Ramatschi. Ich nenne diesen Namen in Ehrfurcht und Dankbarkeit. Er empfing uns wie ein Vater - in Güte und Freude. Er und der Spiritual des Hauses Prälat Dr. Puzik, beides Männer mit Herz und Humor zeigten uns, wie Berufsfreude und Berufstreue gerade in unserer kritischen Zeit gelebt werden können. Ganze Generationen von Priestern, die sich an Neuzelle erinnern, werden mir das bestätigen. Die beiden Gründergestalten gaben dem Haus das Gepräge und die nachfolgenden Regenten, Dozenten und Spirituale setzten die fruchtbare Arbeit der ersten Jahre tatkräftig fort, wobei ihnen Ordensfrauen aus den Kongregationen der Armen Schulschwestern und der Borromäerinnen in der Wirtschaftsführung des Hauses treu halfen

Das Priesterseminar in Neuzelle war kein Vier-Sterne-Hotel. Als Kapitelsvikar Dr. Piontek 1948 beschlossen hatte, in Neuzelle ein Seminar zu errichten, standen nur armselige Pferdeställe und Wirtschaftsräume zur Verfügung. Ein heutiger Architekt, der nichts über die Anfänge weiß, wundert sich mit Recht über die vielen Türen, die gewinkelten Gänge und die Treppchen da und dort. Schließlich stürzt auch die Außenfront des Gebäudes einen Fotografen nicht gerade in Verzückung

Und doch war es eine gute und notwendige Entscheidung. Wo hätte ein Priesterseminar besser Heimat finden können als neben der ehrwürdigen Neuzeller Klos-terkirche, eine Kostbarkeit im hohen Norden? Da tat es nichts, dass die D-Züge in dem kleinen Ort durchfuhren und Sehenswürdigkeiten berühmter Großstädte in einiger Entfernung lagen

In den letzten Monaten vor der Priesterweihe fanden wir in den Mauern, wo bis vor 200 Jahren noch Mönche beteten und arbeiteten, die notwendige Ruhe. Die vielen Wallfahrer, die aus den Gemeinden der Diözese Görlitz und Berlin Jahr für Jahr nach Neuzelle kamen, wussten, dass die Ruhe des Seminars kein Selbstzweck war, sondern nur ein Ziel hatte: junge Männer, die Priester werden wollen, für den Dienst in den Gemeinden vorzubereiten. Für die Wallfahrer, Jung und Alt, wurde die Stiftskirche "Unserer Lieben Frau" und das Priesterseminar eine Einheit. Wir haben es erfahren: Das Gebet des Gottesvolkes trug uns Studenten einstmals auf dem Weg zur Priesterweihe, es hilft uns Priestern bis heute in den Mühseligkeiten unseres Diens-tes. Neuzelle wurde für die Gläubigen unserer Diasporadiözese Görlitz ein geistlicher Brennpunkt, ein Zentrum geistlichen Lebens, eine Oase in der Wüste

Es war nicht weitsichtiges, kluges und zielgerichtetes Planen, was Neuzelle nach dem Krieg zu dem werden ließ, was es geworden ist

Vor dem Krieg, in meiner Jugendzeit, hatte ich den Namen Neuzelle nie gehört. Wir radelten als Jugendbewegte in die uns bekannten Wallfahrtsorte, nach Grüssau zu den Benediktinern, nach Wartha und Albendorf ins Glatzer Land. Und das Priesterseminar für schlesische Theologiestudenten lag in der Bischofsstadt Breslau, wo ich selbst noch 1940 zwei Semester studieren konnte. Dann kam es Schlag auf Schlag: Krieg, Vertreibung, Gefangenschaft! Erst zehn Jahre später hörte ich zum ersten Mal von Neuzelle. In der Notzeit der Nachkriegsjahre hat Gott unserer Ortskirche, dem vertriebenen und pilgernden Gottesvolk in der Wüste der Diaspora, diesen gesegneten Ort geschenkt, auch wenn es Menschen waren, die Gottes Pläne aufgriffen: der damalige Kapitelsvikar Dr. Piontek und sein Jugendseelsorger, der spätere Bischof Theissing. So entstand ein Stück Heimat für die Priester und ein Zufluchtsort für alle Gläubigen aus der Diözese Görlitz und darüber hinaus

Es hat uns überrascht und erfreut in schwerer Zeit, dass Gott auch in der Wüste Brot bereithält. Bis heute kommen Jahr für Jahr Tausende, Jung und Alt. Sie kommen nicht, weil es Jahrespläne und Schaukastenplakate gibt, in denen Wallfahrten vermerkt sind. Mit Reklame kann man den Umsatz von Waschmitteln eine Zeit lang erhöhen, aber es entstehen dabei keine geistligen Bewegungen. Eben das aber geschah: Neuzelle entwickelte seine eigene Zugkraft. Priesterseminar und Wallfahrten machten diesen Ort zu einem großen Segen für unser Land. Wallfahrten wird es auch in Zukunft geben. Ich hoffe sogar: Tendenz steigend! Es wächst im modernen Menschen die Sehnsucht nach Stille und Einkehr nach innen. Es wächst die Erkenntnis, dass die materiellen, horizontalen Befriedigungen der Welt nicht letztlich glücklich machen, sondern der Mensch des Aufblicks zu Gott bedarf, der Ziel unseres Lebens ist. Es wird vor allem der Christ in der Vereinsamung der Diaspora Verlangen haben nach der Gemeinschaft der Glaubenden, die ihn trägt. So wird es Wallfahrten nach Neuzelle auch weiterhin geben. Das stimmt mich froh

Aber das Gebäude des früheren Priesterseminars! Dass wir nun auch bald endgültig davon Abschied nehmen werden, stimmt mich traurig - das will ich nicht verhehlen. Schon vor einigen Jahren musste die damalige Berliner Bischofskonferenz wegen der sinkenden Zahl der Theologiestudenten leider ernste Konsequenzen ziehen: Anschluss des Seminars Neuzelle an das Seminar in Erfurt. Es war ein bedauerlicher, aber wohl notwendiger Entschluss. Danach wurde versucht, eine Ordensgemeinschaft nach Neuzelle zu holen. Zuerst die Benediktiner, dann Augustinerchorherren, dann Franziskaner - umsonst. Schließlich zogen Brüder und Schwestern der Gemeinschaft der Seligpreisungen zu unserer Freude in die freien Räume. Nun aber zwingen uns - wir waren ja immer nur Mieter im Seminar - die hohen Mietpreise seitens der Stiftung "Stift Neuzelle", Abschied zu nehmen. Das stimmt traurig, aber es bleibt die Zuversicht auf Gottes gütige Führung. Wenn ich dankbar an das Pries-terseminar Neuzelle denke, trös-tet mich, was im Alten Testament im Buch Kohelet zu lesen ist: "Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit ... Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ernten ... eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen ... eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden ...!" Deus providebit - Gott wird weitersehen

Altbischof Bernhard Huhn

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 42 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 24.10.1999

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