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Bistum Görlitz

Gebete auf dem Grenzturm

DDR-Biografie

Cottbus (ks) - Viel wird dieser Tage und Wochen über die Wende gezeigt, geredet, geschrieben. Im Zusammenhang mit der Grenzöffnung, die sich bald zum zehnten Mal jährt, beschäftigen sich die Medien allerorten mit den Vorkommnissen rund um die "Berliner Mauer". Ein Cottbuser Katholik hat die Mauer unfreiwillig vom Grenzturm aus kennen gelernt. Im Gespräch erzählt er seine Erfahrungen, begründet seine Entscheidungen. Andere, so sagt er, mögen in einer ähnlichen Situation andere Erfahrungen gemacht haben - menschlichere oder auch unheilvollere

"Für mich stand damals fest: Ich werde die Waffe nie gezielt auf einen Menschen richten, sollte es auch in den Militärarrest gehen. Und das zu erwartende Szenario eines Grenzdurchbruchs spielte ich so oft wie möglich in Gedanken durch, um mir der ganzen Tragik und Verantwortung bewusst zu sein." Der das erzählt, Wilfried Quinte, war 1974 Grenzsoldat an der Berliner Mauer. Der heute 48-jährige Familienvater lebt in Cottbus. Seiner Christusgemeinde ist der engagierte Katholik eng verbunden. Mit seinem Sohn übernimmt er turnusmäßig Küs-ter- und Lektorendienste in der Filialkirche Edith Stein. Die ganze Familie arbeitet ehrenamtlich bei den Maltesern mit

Wie die meisten anderen Wehrpflichtigen auch, hatte Quinte drei Wochen vor der Einberufung seinen Einsatzort erfahren: "Grenztruppen der DDR". Bei der Musterung, Monate vorher, hatte es noch "Mot-Schützen" (motorisierte Schützentruppen) geheißen. Das Ingenieur-Studium hatte er erfolgreich abgeschlossen. Das Leben lag vor ihm. Seine Vorstellung: Die 18 Monate NVA irgendwie "herunterreißen" und anschließend mit viel Enthusiasmus ins Berufsleben. Und dann dieser Schock: Als Christ nach Berlin an die Grenze! "Freilich hätte ich auch jetzt noch protestieren können, in welcher Form auch immer", sagt Quinte heute und fügt nachdenklich hinzu: "Insider wissen, dass die Konsequenzen daraus über das Verbauen aller Berufschancen bis zur Inhaftierung und Verurteilung gehen konnten.

Geprägt durch das Elternhaus machte er sich Mut, eben wissend, dass jeder Situation immer noch Gutes abzugewinnen ist. "Man kann nicht alles Andersdenkenden überlassen. Ich will versuchen, mich mit meinem christlichen Gedankengut in die mich erwartende Umgebung einzubringen."

Seine innere Einstellung war, wie konnte es im "Überwachungsstaat" DDR anders sein, im Regiment bekannt. Ein hochrangiger Offizier sagte ihm in einem privaten Vier-Augen-Gespräch: "Ich habe zufällig deine Akte gelesen und muss mich wundern, dass du mit deiner Einstellung hier bist. Sieh dich ja vor ...!" Beweis dieses - gut gemeinten - Hinweises war, dass Quinte nie als Postenführer eingesetzt wurde, immer als zweiter Mann. Er war ein Unsicherheitsfaktor

Dazu war die von der Stasi ausgetüftelte "Aufstellungssys-tematik" perfekt. "Ich stand in dem ganzen Jahr meines Grenzdienstes nicht ein einziges Mal mit dem gleichen Postenführer an der gleichen Stelle". Den Ablauf hat er folgendermaßen in Erinnerung: "Nach der so genannten Vergatterung verlas der Diensthabende, welcher Postenführer in dieser Schicht mit welchem Soldaten an welcher Stelle seinen Dienst zu versehen hat. Dann ging es auf Lkws ab in Richtung Grenzstreifen. An den jeweiligen Postenstandorten wurden die vorher Eingeteilten abgesetzt." Oft kannten sich die auf diese Art Zusammengewürfelten kaum. Keiner wusste, welche Einstellung, welchen Charakter der andere hatte. Somit war es beispielsweise auch nicht möglich, dass sich zwei absprachen, selbst einen Fluchtversuch zu unternehmen. Auch bei einem möglichen Fluchtversuch war vorher nicht absehbar, wie sich der andere verhalten würde - Unwägbarkeiten, mit denen ein junger Mann psychisch fertig werden musste

Was geht in einem 23-Jährigen vor, wenn er mit einer "Kalaschnikow" und 60 Schuss scharfer Munition zu seinem Dienst auf den Wachturm steigt? "Angst. Angst und Hoffung", bekennt Wilfried Quinte. "Angst davor, dass ich in einer Stresssituation die Kontrolle über mich selbst verliere und ich meine Grundsätze nicht mehr einhalten kann. Dazu aber auch immer die Hoffnung, dass ich einer solchen Prüfung nicht unterzogen würde. Dass keiner mit seinem Leben spielt und in meinem Bezirk versucht, über die Mauer zu flüchten." Sehr nachdenklich wird Quinte, wenn er dann über sein Gebetsleben während dieser "Grenzerzeit" spricht. "Ja, auf Grenztürmen wurde auch gebetet. Das mögen sich alle, die Grenzsoldaten pauschal Mauerschützen und Mörder nennen, hinter die Ohren schreiben." Er vergleicht sein Bitten an Gott mit dem Beten des blutschwitzenden Christus im Ölberg: 'Herr, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen!' Nur Gottes Hilfe und Beistand, meint er heute, haben ihn vor der "Prüfung" bewahrt

Und Quintes Meinung steht noch heute fest: "Wer den Fluchtversuch über die Mauer wagte, spielte mit seinem Leben. Das System war so ausgeklügelt, dass es kaum ein unversehrtes Durchkommen geben konnte." Sehr nachhaltig ist ihm in Erinnerung, als in einem Nachbarabschnitt ein Flüchtling erschossen wurde. Der Vorfall wurde allen als vereitelter Grenzdurchbruchsversuch mitgeteilt, jedoch ohne Einzelheiten. Im Flüsterton wurde unter den Soldaten da- rüber diskutiert und es ging Angst um: "Wie wird derjenige damit fertig? Der Schießbefehl sollte zwar alles rechtfertigen - aber das eigene Gewissen?"

Ein Trost für den jungen Soldaten: Der Schießbefehl ließ Ausnahmen zu: Auf Kinder und schwangere Frauen sollte nicht geschossen werden. "Ein kleines Schlupfloch zur Selbstrechtfertigung", sagt Wilfried Quinte und fügt hinzu: "Unterscheide einmal in der Nacht, ob eine Person schwanger ist oder nicht."

Doch auch manche gute Erfahrung wird er nicht vergessen: "So oft als möglich", so erzählt er, "besuchte ich die Gottes-dienste in den umliegenden Kirchen." Dabei denkt er noch heute dankbar an eine Familie, die ihn, den "unbekannten Soldaten" nach einer Abendmesse zu sich nach Hause auf einen netten Abend einlud. "Das waren Sternstunden, für einen, der sonst sehr einsam durch die Millionenstadt schlenderte", resümiert er

Im Nachhinein ist sich Wilfried Quinte bewusst, dass die Zeit auf dem Grenzturm ihn für sein ganzes Leben geprägt hat. "Während der Dienstausübung ergab sich nie die Notwendigkeit, die Waffe in Anschlag zu bringen. Das habe ich ganz sicher Gott zu verdanken." Davon ist er auch nach 25 Jahren noch überzeugt. Klaus Schirmer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 43 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 31.10.1999

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