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Bistum Magdeburg

Katholiken über ihre Rolle in der Wende

Podiumsdiskussion in Magdeburg

Gerhard Nachtwei, Ludger Nagel, Norbert Bischoff Magdeburg (dw) - "Katholische Gemeinden haben hier damals stärker als in anderen Regionen eine große Zahl unterschiedlichster Menschen zusammengebracht und sie ermutigt, sich für die Gesellschaft zu engagieren." Darin sieht der Magdeburger Landtagsabgeordnete Norbert Bischoff (SPD) ein besonderes Verdienst der katholischen Kirche im Magdeburger Wende-Geschehen. Er selbst erlebte diese Zeit als Mitarbeiter des Bischöflichen Ordinariates. Bei einer Veranstaltung der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) am 19. Oktober sprach er mit anderen Zeitzeugen und dem Historiker Bernd Schäfer über den katholischen Beitrag zum gesellschaftlichen Umbruch in Magdeburg

Dabei hoben die Podiumsteilnehmer die weit über die Bistumsgrenzen hinausreichende Wirkung des Hirtenbriefes des damaligen Magdeburger Bischofs Johannes Braun hervor, in dem er verschiedene Missstände in der DDR anprangerte. "Trotz seiner Krankheit war er bereit und hatte den Mut, längst Überfälliges öffentlich anzusprechen", sagte Norbert Bischoff. Katholiken in der ganzen DDR hätte der am 24. September 1989 veröffentlichte Brief bewegt, sich in ökumenischen Friedensgebeten, bei Demonstrationen, in politischen Oppositionsgruppen und an den Runden Tischen einzubringen

Nach Einschätzung des damaligen Pfarrers der Magdeburger St.-Agnes-Gemeinde, Gerhard Nachtwei, kam der Hirtenbrief "im allerletzten Augenblick". Seit Monaten sei die Berliner Bischofskonferenz, deren Vor-sitz zwischen Februar und September 89 vakant war, immer wieder von Gruppen und einzelnen Katholiken gedrängt worden, Stellung zur politischen Lage zu nehmen und den Staat zu einem offenen Dialog aufzufordern. Nachtwei selbst hatte bereits zu Beginn der 80er Jahre die Notwendigkeit gesehen, dass die katholische Kirche ihr Prinzip der völligen politischen Abs-tinenz in der DDR lockert und sich aus Sorge um das Heil aller Menschen stärker in gesellschaftlichen Fragen zu Wort meldet

Die Bischöfe beschränkten sich im Sommer 89 jedoch auf beschwichtigende Worte. Angesichts der Ausreisewelle forderten sie die Katholiken zur Geduld und zum Bleiben in der DDR auf. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz hielt der neue Berliner Kardinal Georg Sterzinsky in Westberlin eine missverständliche Predigt, in der er sagte, der "schwerere Weg" sei es zu bleiben. Staatsfunktionäre interpretierten diese Predigt als Loyalitätsbeweis: "Die stehen voll zu uns"

Für Pfarrer Nachtwei war mit dieser Predigt "das Maß voll". Gemeinsam mit Norbert Bischoff, dem damalige Bauamtsleiter Ulrich Berger und dem Pfarrer der St.-Mechthild-Gemeinde, Josef Kuschel, drängte er Bischof Braun, den Hirtenbrief zu veröffentlichen. Der tat dies ohne Zustimmung der Berliner Bischofskonferenz, die er nach Überzeugung des Historikers Bernd Schäfer zum damaligen Zeitpunkt auch nicht bekommen hätte. Katholischerseits habe es in der DDR 1989 eine "große Ungleichzeitigkeit" gegeben, diagnostiziert er

Das brisante Hirtenwort brachten Helfer mit Autos in alle Gemeinden des Bischöflichen Amtes, um es den Priestern persönlich aushändigen zu können. Nachdem es verlesen worden war, wurde in der Kirche vielerorts Beifall geklatscht. Bischof Braun erhielt rund 1000 Antwortschreiben, unterzeichnet von 15 000 DDR-Bürgern. Es wäre schön, wenn die gesammelten Antwortbriefe in einer Dokumentation veröffentlicht werden würden, wünschten etliche Teilnehmer der Magdeburger KEB-Veranstaltung

Zehn Jahre nach der Wende werden bei vielen damals Beteiligten Erinnerungen wieder lebendig. "Angst hatten wir schon", war bei der Veranstaltung in Magdeburg auch im Plenum immer wieder zu hören

"Für diejenigen, die nicht bei der Kirche beschäftigt waren, war das Risiko allerdings erheblich höher als für uns", sagt Norbert Bischoff. In Magdeburg gab es eine Reihe engagierter katholischer Laien, die ähnlich wie Bischoff und Nachtwei immer wieder das Gespräch mit Braun gesucht hatten. Fast von Anfang an waren Katholiken auch an den montäglichen Friedensgebeten im Magdeburger Dom beteiligt, die nach dem Vorbild der Leipziger Nikolaikirche im September begannen

Bald darauf initiierten die Katholiken Arbeitskreise auf den Themengebieten Wirtschaft, Bildung und Menschenrechte, die als Diskussionsforen offen für alle Bürger waren. "Manchmal kamen bis zu 1000 Teilnehmer pro Abend", erinnert sich Gerhard Nachtwei, der den Wirtschaftskreis leitete. Mit Druckschriften, die unter Federführung Norbert Bischoffs in der kleinen Ordinariatsdruckerei hergestellt worden waren, wurden die Teilnehmer der Arbeitskreise motiviert und mit Hintergrundinformationen versorgt. Im Wirtschaftskreis entstand die Idee, eine eigene Zeitung herauszugeben. Mit Unterstützung der Paderborner Bonifatius-Druckerei erschienen sechs Ausgaben dieses Wende-Journals. Vertreter aller Oppositionsgruppen trafen sich wöchentlich im Keller der Propstei. Katholiken saßen an den Runden Tischen der Stadt und des Bezirks

Am 6. November forderte der Magdeburger Stadtklerus die Berliner Bischofskonferenz auf, in einer öffentlichen Stellungnahme unter anderem freie Wahlen zu fordern, an den politischen Hauptbrennpunkten verantwortliche kirchliche Mitarbeiter einzusetzen und das katholische Engagement DDR-weit zu koordinieren. Der Hirtenbrief, den die Bischofskonferenz am 7. November dann tatsächlich unterzeichnete und der im Wesentlichen auf einer Vorlage des Berliner Prälaten Gerhard Lange beruhte, nahm die Vorschläge der Magdeburger Priester nicht auf. Bei seiner Verlesung am 12. November sei der Inhalt dieses Hirtenbriefes bereits von den Ereignissen der Maueröffnung überholt worden, erinnern sich die Zeitzeugen aus Magdeburg. In den Magdeburger Gemeinden wurde zusätzlich zu diesem Brief das Schreiben des Stadtklerus verlesen

Das anfänglich gemeinsame gesellschaftliche Engagement der Katholiken entwickelte sich schnell in unterschiedliche Richtungen. Katholiken arbeiteten in verschiedenen Parteien und in den neu gegründeten Bürgerkomitees mit. In Aschersleben versuchten Katholiken sogar, eine eigene Partei zu gründen. Norbert Bischoff wurde im November 89 für einige Monate von Bischof Braun freigestellt, um die politischen Aktivitäten der Katholiken im Gebiet des Bischöflichen Amtes koordinieren zu können

Die Wende hat bei vielen ihrer Akteure das Leben nachhaltig verändert. Norbert Bischoff, der zunächst nur vorgehabt hatte, andere zum gesellschaftlichen Engagement zu ermutigen, begann schließlich seine eigene politische Arbeit im Magdeburger Sozialministerium. Ausschlaggebend war für ihn die Feststellung, dass die ehemalige FDJ-Bezirksleitung plötzlich fast komplett im Sozialministerium saß. Der Kirche ist er bis heute für die Unterstützung in der Wendezeit sehr dankbar, wenngleich er sich in manchen Situationen noch etwas mehr Mut gewünscht hätte. Vor der Montagsdemonstration am 9. Oktober beispielsweise seien die Mitarbeiter des Ordinariates zusammengerufen und davor gewarnt worden, zum Dom zu gehen

Wenn Gerhard Nachtwei, der heute Pfarrer in Burg ist, an 1989 zurückdenkt, ist er noch immer dankbar, ein Wunder erlebt zu haben. Den Kater, der für gewöhnlich auf Wunder folgt, müsse man eben verkraften und sich darauf einstellen, dass die Menschheit weiterhin und zu allen Zeiten ihre Probleme haben wird, meint er. Nachtweis damalige Erkenntnis, dass die Kirche nicht nur für ihre Mitglieder da ist, sondern dass ihr die Sorge um das Heil jedes Menschen anvertraut ist, gewinnt für ihn seit der Wende immer mehr an Bedeutung. Gerade in den letzten Wochen erlebt er, dass immer mehr Menschen aus unterschiedlichsten Motiven nach der katholischen Kirche fragen. "Wer weiß, vielleicht geschieht etwas Neues?!" sagt er. "Der Heilige Geist wirkt doch nicht nur bei Pfarrern," lautet eine weitere seiner Wende-Erkenntnisse. Nach dem Herbst 89 müsse man offen sein für weitere Wunder

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.11.1999

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