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Bistum Magdeburg

Stiftskirche Hamersleben

Denkmal

Stiftskirche Hamersleben Vor der Kirche des einstigen Augustiner-Chorherrenstifts Hamersleben grasen Pfarrer Kemmings Heidschnucken, behütet von einem gutmütigen Hirtenhund, im Innenhof der Anlage bewegen sich gemessenen Schrittes einige Pfauen. Seit Anfang der 60er Jahre lebt der katholische Priester inmitten jahrhundertealter Mauern des beschaulichen und doch geschichtsträchtigen Bördedorfes, und er lebt gern hier. Besucher, die auf der Straße der Romanik abseits der Hauptverkehrsstraßen nach Hamersleben finden, führt er nach Möglichkeit selbst durch die ganztägig geöffnete Stiftskirche St. Pankratius. Er tat das schon zu DDR-Zeiten, auch wenn staatliche Stellen zeitweise versuchten, ihm die Führungen aus der Hand zu nehmen

Bevor der gebürtige Westfale mit einer Kirchenführung beginnt, lässt er den Besuchern einige Augenblicke lang Zeit, damit sie zur Ruhe kommen und die Atmosphäre des aufwendig gestalteten, aber dennoch schlicht wirkenden Gotteshauses erspüren. Dann setzt er sich, den großen Kirchenschlüssel in den Händen, rücklings auf eine der Bänke und beginnt zu erzählen

Von zwei Pfalzgräfinnen im einstigen Bistum Halberstadt, die den AugustinerChorherren viel Geld anboten, damit sie den Harzort Osterwieck verließen und sich in Hamersleben ansiedelten, weiß er zu berichten, von internationalen Künstlern, die in der Säulenbasilika gewirkt haben, von den Umbauten der Barockzeit, der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts und den Restaurierungsbemühungen in der DDR

Die fast 900-jährigen Geschichte des romanischen Gotteshauses ist dem Pfarrer und Geistlichen Rat sehr vertraut. Er kennt auch jede Ecke des Sandsteinbaus, für dessen Erhalt er seit Jahrzehnten lebt. Viele Steine und Balken hat er selbst in der Hand gehalten, wenn er bei den Bauarbeiten mit zupackte

Stiftskirche Hamersleben Kapitell Nicht nur Fakten über Geschichte und Architektur gibt er den Teilnehmern seiner Führungen weiter. Er teilt auch seine Gedanken mit, zu denen ihn das Bauwerk inspiriert. Wenn er die Gäste auf die reich geschmückten Würfelkapitelle hinweist, die, wie er sagt, zu den schönsten Europas gehören, nimmt er sich manchmal Zeit für eine kleine Meditation. Auf einem der Kapitelle beispielsweise ist der Vogel Greif abgebildet, in der unteren Ecke, von ihm in die Enge getrieben, ein Mensch. Seit 20 Jahren hängt hinter dieser Säule das Lettnerkreuz. "Ist nicht auch Christus in die Sackgasse gedrängt worden?", fragt Ludger Kemming. "Wir glauben, dass gerade in ihm der Ausweg liegt, doch das zu begreifen, ist ein Geschenk, man kann es nicht aus sich selbst heraus."

Er freut sich, wenn er die Ehrfurcht, die er selbst in dem Gotteshaus empfindet, auch bei den Besuchergruppen finden kann. Besonders beeindruckt haben ihn in dieser Hinsicht junge Russen, die vor der Wende im Rahmen von FDJ-Besuchsprogrammen immer wieder nach Hamersleben kamen und die sich in der Kirche mit großem Respekt bewegten. Ähnlich aufmerksam erlebte er Gruppen von Freimaurern, die er wiederholt durch die Kirche geführt hat. Bei katholischen Gruppen hat er sich dagegen schon häufiger darüber geärgert, dass sie sich ähnlich wie in einer Kaufhalle verhielten

Zu den besonderen "Schmuckstü-cken" der Kirche gehören eine gotische Madonna, die von einem Meisterschüler Tilman Riemenschneiders stammen könnte, und das barocke Altarwerk, dessen Wechselbilder - wie auch der Kreuzweg, andere Kunstwerke und Teile der kirchlichen Bausubstanz - noch auf ihre Sanierung warten. In der mit Kirchenmitteln renovierten gotischen Bibliothek sind wertvolle Paramente erhalten. Die Bücher, die in Hamersleben bis ins 18. Jahrhundert hinein geschrieben wurden, verkaufte man 1804. Zum großen Teil sind sie daher nicht mehr am Ort. Eine Bibelausgabe zum Beispiel findet sich im Halberstädter Domschatz, eine Handschrift aus der Zeit um 1200 im Kestnermuseum Hannover

Im vergangenen Jahr ließ das Land Sachsen-Anhalt für mehrere 100 000 Mark den Westgiebel sichern. "Die ganz große Kirchenrenovierung steht uns noch bevor", sagt Pfarrer Kemming. Trotz seiner 72 Jahre sieht er künftigen Bauarbeiten ganz gelassen entgegen: "Schließlich habe ich in der Kommunis-tenzeit 25 Jahre Bautätigkeit ohne Unterbrechung erlebt." Eine seiner ersten, mühevollen Aufgaben war es in den 60er Jahren, mit einigen Helfern die Holzdecke wieder freizulegen, die im vorigen Jahrhundert mit brauner Ölfarbe angestrichen worden war. Drei Millionen Mark hatte der Staat als offizieller Besitzer des Stiftes zu DDR-Zeiten für die Restaurierung beigesteuert. Geld, das nach Kemmings Einschätzung angesichts niedriger Lohn- und Materialkosten ein Vielfaches des heutigen Wertes hatte. Damals wie heute verlassen sich der Pfarrer und seine Gemeinde nicht nur auf den Staat, sondern tragen selbst dazu bei, Mittel für die Kirche aufzubringen. So hat die Pfarrei das Gebäude der früheren katholischen Schule für 98 000 Mark an das Bürgermeisteramt verkauft. Das Geld soll, ebenso wie die Spenden, die bei Führungen eingehen, und der Erlös verkaufter Postkarten dem Bau einer neuen Orgel zugute kommen. Die Hamerslebener freuen sich darauf, das Instrument in ihrem Gotteshaus erklingen zu lassen. Die besondere Akustik der Kirche erleben auf eindrucksvolle Weise manchmal auch die Besucher. Wenn Pfarrer Kemming von den Altarstufen aus das österliche "Halleluja" anstimmt, erfüllt seine Stimme das ganze Kirchenschiff und wird bis in die letzte Bank getragen.

D. Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.11.1999

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