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Ehemaliger Leipziger Studentenpfarrer Tiefensee zur Rolle der KSG im Herbst 1989

Im Interview

Prof. Tiefensee In diesen Tagen feierte die katholische Studentengemeinde (KSG) in Leipzig ihre Gründung vor 80 Jahren (Seite 13). Zwischen 1987 und 1991 war Eberhard Tiefensee Studentenpfarrer der Leipziger KSG. Heute ist er Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Erfurt. Der Tag des Herrn sprach mit ihm über die Rolle der Katholischen Studentengemeinde während der Ereignisse im Herbst 1989:

Herr Professor Tiefensee, welche Rolle spielte die Leipziger katholische Studentengemeinde im Herbst 1989?
Die KSG spielte wie die Studierenden allgemein eher eine unbedeutende Rolle. Viele Studenten der KSG haben sich jedoch an den Demonstrationen und später an den Studentenräten beteiligt. Ich selbst war damals der Meinung, dass die Gemeinde als Gemeinde keine politische Größe sei, sondern dass sich Christen individuell engagieren und sich dazu mit anderen zusammenfinden sollten. Wahrscheinlich war das ein Fehler, weil in der spezifischen Situation des Herbstes '89 falsch. Ich habe dann darauf gedrängt, dass die KSG zusammen mit der evangelischen Studentengemeinde beim "Runden Tisch der Jugend" in Berlin mitwirkt.
Wurde während dieser Zeit in der Studentengemeinde viel diskutiert?
Damals standen dienstags an den Vortragsabenden programmgemäß Themen über Literatur und Kunst, über Psychologie und Selbstfindung und Ähnliches im Vordergrund. Politische Themen kamen nur am Rande vor. Ich glaube, es war angesichts der vielen Diskussionen dieser Tage der Wunsch da, in der KSG weiterhin auch über etwas Anderes zu reden als nur über Tagespolitik. Unpolitisch blieb die KSG aber nicht: Es bildeten sich Arbeitskreise, die Transparente für die Demonstration anfertigten und vor den Wahlen von 1990 politische Programme diskutierten.
Und wurde vor 1989 über die Politik gesprochen?
Ja, die KSG war unter den DDR-Verhältnissen einer der wenigen Orte, an denen es möglich war, offen politisch zu diskutieren, auch wenn uns das alles eher theoretisch erschien. Bei den Glaubensgesprächen am Donnerstagabend behandelten wir unter anderem auch Themen der katholischen Soziallehre, aber damals war oft das Ergebnis: Man kann das sowieso nicht umsetzen. Ich erinnere mich auch noch gut an einen Vortrag eines Marxisten in der KSG. Die Zuhörer nahmen ihn im Anschluss heftig ins Kreuzfeuer. Es gab eine schwere Diskussion über das Verhältnis von Marxismus und Christentum, Staat und Kirche.
Wie ging es für die KSG nach dem 9. November '89 weiter?
Es begann eine heiße Phase - mein Terminkalender war damals rappelvoll. Die Veränderungen waren enorm. Die KSG trat erstmals aus ihrem Schattendasein an die Öffentlichkeit. Einige KSG-Mitglieder waren wie elektrisiert, andere eher verunsichert. Eine wichtige Aufgabe der KSG war es damals, ein Auffangbecken für die Studierenden zu sein und zugleich ein Anlaufpunkt für diejenigen, die vom Westen her neue Kontakte zu DDR-Studenten suchten. Durch die Unterstützung der katholischen Studentenförderung "Cusanuswerk" und einiger Partnergemeinden konnten KSG-Studenten schon im Westen studieren, als ansonsten dafür noch alle Voraussetzungen fehlten.
Was ist für Sie das Potential der KSG?
Dass Studierende aus allen Studienrichtungen zusammenkommen. Manch einer kommt her, um Gleichgesinnte zu treffen und profitiert von der Gemeinschaft, andere suchen den Austausch über Glaubens- und Lebensfragen. Die Erfahrung, die sie anders als in vielen Ortsgemeinden machen: Ohne uns läuft in der KSG nichts. Schon vor 1989 war die KSG für solche Leute eine "Schule der Demokratie", wenn sie im Gemeinderat saßen oder Sprecher waren. Anträge einbringen, Abstimmungen leiten, Ordnungen erstellen - das wollte gelernt sein. Viele Christen, die sich nach der Wende politisch engagierten, sind aus den Studenten- und Akademikerkreisen der beiden Kirchen gekommen.

Interview: Claudia Breitkopf

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 47 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 28.11.1999

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