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Aus der Region

Den Hass verloren

Ex-Stasi-Häftling Charly

Zielsicher steckt Charly in Sekundenbruchteilen den Schlüssel ins Schloss. Zwei blitzschnelle Drehungen nach links. Klack, klack und Riegel auf - die Zellentür ist offen. Ebenso schnell geht der Einschluss. Charly schlägt mit einem lautstarken Knall die schwere Metalltür zu. Schlüssel ins Schloss, wieder zwei Drehungen - diesmal nach rechts. Die Zelle ist zu! Charly beherrscht die Techniken der Gefängnisschließer. "Ich habe schließlich auch studiert - Knastologie und Gitterkunde!", kommentiert er ironisch

Charly präsentiert seine Kenntnisse den Besuchern der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Bis 1990 war hier ein Gefängnis, im Mai 1945 von den Sowjets eingerichtet als Speziallager für feindliche Elemente. 1951 übernahm es der DDR-Staatssicherheit als zentrale Untersuchungshaftanstalt. Dieses Gefängnis war einer der Orte, die Charly zu DDR-Zeiten von innen kennen lernte. Sein Verbrechen: Er war Rolling-Stones-Fan. Das brachte ihn 1969 zum ersten Mal in Kontakt mit der Stasi. Immer wieder wanderte er in den folgenden 18 Jahren in DDR-Gefängnisse. Manchmal vergingen nach einer Entlassung nur Stunden, und er wurde erneut verhaftet, inzwischen weil er die DDR für immer in Richtung Westen verlassen wollte. Die Stasi hatte die Finger in seinem Leben. Sie verfolgte ihn bis zu seiner Abschiebung in den Westen 1987. Nach dem Fall der Mauer kam er zurück, um sich zu rächen. Aber eine Begegnung hat sein Leben verändert. Heute sagt Charly: "So gut es ging, habe ich meine Vergangenheit aufgearbeitet - gewaltfrei!"

Es war der 7. Oktober 1969, der 20. Jahrestag der DDR, als Charlys Leidensweg begann. Der RIAS hatte gemeldet, dass die Rolling Stones aus Anlass des "Republik-Geburtstages" ein Konzert auf dem Springer-Hochhaus geben. Und Gerhard Rau - Charly nennt er sich nach dem Schlagzeuger der Stones - war 18 Jahre und ein großer Fan der Gruppe. Natürlich war er deshalb schon aufgefallen - allein die langen Haare genügten, dass er aus der Schule flog. "Gammler weg - hat kein Zweck", hieß eine Parole der DDR-Jugendorganisation FDJ

Charly zählte zum harten Kern der Stones-Fans. Wenige Tage vor dem Konzert erhielt er eine Vorladung der Polizei. Charly wurde "belehrt" und unterschrieb, dass er am 7. Oktober die Wohnung nicht verlassen werde. Trotzdem machte er sich auf den Weg Richtung Springer-Hochhaus. "Und da erwarteten sie uns schon: Polizei und Stasi-Wachregiment, Wasserwerfer und Motorradstaffel." Charly wurde verhaftet. "Wir haben Ihnen eine Chance gegeben", sagte man ihm - ein Satz, den er später noch oft hören würde -, und zum ersten Mal gings ab ins Gefängnis

Charly steht mit den Besuchern im U-Boot. U-Boot nannten die Häftlinge den Fabrikkeller, den die sowjetischen Besatzer 1946/47 zum Gefängnis umgebaut hatten. Keine Fenster, keine Heizung. Keine Matrazen, keine Bettdec-ken. Dafür Folter-Zellen, die mit Wasser gefüllt werden konnten oder in denen eine Einrichtung stand, in die die Gefangenen eingespannt wurden - einen Eimer über dem Kopf befestigt, aus dem Wasser auf sie herab tropfte. Ob diese Zellen auch benutzt wurden - dafür gibt es keine Beweise

Von 1951 bis 1961 betrieb die Stasi das U-Boot weiter. Dann nahm sie einen Neubau in Betrieb. Die Wasserfolter brauchte man nicht mehr. Die Methoden waren inzwischen verfeinert worden: psychische statt physische Folter, auch deshalb, weil der Westen Gefangene freikaufte, und man ihnen die Spuren der Haft nicht ansehen sollte. Charly präsentiert den Besuchern einige dieser "feinen" Methoden: Wer beispielsweise nachts nicht wie vorgeschrieben in Rückenlage auf der Pritsche lag, die Arme über der Brust verschränkt, wenn der Aufseher mehrmals in der Stunde zur Kontrolle das Licht in der Zellen einschaltete und durch den Spion blickte, wurde durch lautstarkes Klopfen mit dem Schlüssel gegen die Zellentür "erinnert". Half das nichts, betätigte der Aufseher einen Schalter, so dass das Licht in der Zelle flackerte

Bis heute weiß Charly nicht, in welches Gefängnis er nach seiner ersten Verhaftung gebracht wurde. "Ich vermute nach Brandenburg." Auch das gehörte zur Taktik. Die Gefangenen wurde in umgebauten Lastern oder Kleintransporter kreuz und quer durch die DDR gefahren. Ein solches Fahrzeug zeigt Charly den Besuchern. In den Autos - von außen als Post- oder Bäckereilieferwagen getarnt - waren fünf bis sieben Zellen eingebaut: je einen halben Meter breit und lang und eineinhalb Meter hoch. Fenster fehlten. Wer hier drin saß, verlor nach ein paar Minuten Fahrt jede Orientierung. Im Gefängnis angekommen, wurden die Gefangenen mit Schneller-schneller-Rufen ins Gebäude getrieben. Keine Chance, sich zu orientieren. Eines allerdings ist Charly bis heute in Erinnerung - ein Spruch an der Wand im Eingangsbereich eines Gefängnisses, sozusagen zur Begrüßung: "Was du nicht kannst, musst du lernen. Wenn es dir schwerfällt, werden wir dir helfen. Aber wenn du nicht willst, werden wir dich zwingen."

Zwingen - dazu diente auch die strenge Kontrolle, der Charly sich unterziehen musste, wenn er entlassen wurde. "Verschärfte Wiedereingliederungsmaßnahmen" kann er heute in seiner Akte lesen. Er besaß nie einen richtigen Personalausweise, durfte sich nur an bestimmten Orten aufhalten, musste sich regelmäßig bei der Polizei melden, und er bekam "die Chance", sich in der sozialistischen Produktion bewähren. "Wir sind ja keine Unmenschen!" Charly entgegnete: "Ich arbeite nicht für den Sozialismus oder für die Handlager Moskaus" und suchte sich selbst einen Arbeitsplatz in einem der kleinen Privatbetriebe, die es Anfang der 70er Jahre noch gab. Keine vier Stunden arbeitete er dort, da holte ihn die Stasi ab

Ein anderes Mal wurde Charly entlassen mit der Auflage, sich in einem Dorf in Sachsen aufzuhalten. Von der Wand des Zimmers, in dem er wohnen sollte, hatte man vergessen, zwei Bilder zu entfernen: die Porträts von Parteichef Erich Honecker und Regierungschef Willi Stoph. "Wer ist denn das?", fragte Charly beim Betreten seiner neuen Bleibe. "Max und Moritz?" Und schon war er wieder drin. Ganz offen spricht Charly auch darüber, dass er einmal einen Parteisekretär in einem Betrieb einen Faustschlag verpasst hat. Auch das ein Grund für eine Inhaftierung

Am Ende galt Charly als "besserungsunwillig", erhielt selbst im Gefängnis Arbeitsverbot, wurde mal in Einzelhaft gesteckt oder - zur Erziehung - in eine "sozialistische Großzelle", zusammen mit Mördern und Sittlichkeitsverbrechern ..

Charly ist mit den Besuchern im Vernehmertrakt angekommen. In Hohenschönhausen gab es etwa so viele Vernehmerzimmer wie Zellen. Bei der Vernehmung sollten die Inhaftierten ihre Verbrechen gestehen. Der Autor und Psychologe Jürgen Fuchs, der im Mai diesen Jahres starb und 1976/77 in Hohenschönhausen inhaftiert war, hat die Methoden der Vernehmer in seinem Buch "Magdalena" beschrieben: "Isolierung: Nach der Festnahme bist du allein, jede soziale und politische Unterstützung ist weg, Einzelhaft ... Du weißt nicht, wie lange du sitzen wirst, sie versprechen viele Jahre oder auch nur ein paar Tage bei Kooperation ... Eine Postsperre kann es geben, die Schreib-, Lese- und Liegeerlaubnis kann entzogen werden ... Vernehmer präsentieren in einer bestimmten Phase Briefe und Fotos der Frau, der Kinder, zeitgleich Belastungsmaterial, um eine Schockwirkung zu erzeugen, eine ,Regung', eine spontane Reaktion, vielleicht einen Zusammenbruch, eine lange verweigerte Aussage ... Lieblingsspiele: Zigaretten ja - nein, Kaffee ja - nein, Arztbesuche ja - nein ... Wechselbäder, mal so, mal so ... Kommt dann ein echtes Zeichen von außen, erwischst du plötzlich einen Blick in den Spiegel und wirst an dich selbst erinnert, an dein eigenes und wirkliches Ich, das einmal außerhalb dieser Mauern und Maßnahmen existierte, so kann es sein, dass du zusammenbrichst und sterben willst und einen Weg findest ..."

18 Jahre Stasi-Haft haben Charly zermürbt. Die letzten Stationen erzählt er nur stichwortartig: Man hatte ihm Teile der Haut abgezogen, Zähne ausgeschlagen, er war lungenkrank ... Und es gab einen neuen Prozess in Leipzig. Es war der letzte, denn Charly wurde freigesprochen. In Berlin solle er sich melden, sagte der Richter. Und wieder wartete die Stasi. Diesmal aber nicht, um ihn zu verhaften. Nein, sie fuhren ihn zum S-Bahnhof Friedrichstraße: "Jetzt sind Sie kaputt. Wir brauchen Sie nicht mehr. Verlassen Sie die DDR. Alles Gute!", gaben ihm die Stasi-Leute mit auf den Weg

Zwei Jahre später ging die Mauer auf. Charly kam zurück - "mit 15 oder 20 Knastkollegen. Wir wollten uns rächen!" In diesem Augenblick hatte er eine Begegnung, die sein Leben veränderte und ihm half, mit den Erfahrungen aus der DDR-Zeit fertig zu werden. "Mit Gewalt ist kein Thema zu lösen", sagte ein älterer Mann zu ihm. Es stellte sich heraus, dass er ein evangelischer Pfarrer war. Charly: "Erst habe ich mich gefragt, was will denn der. Dann habe ich an meine Mutter gedacht, die gesagt hat, höre auf einen älteren Menschen!" Tage später habe er sich gefragt: "Wie soll mein Leben weitergehen?" Und Charly ging in die Kirche. "Ich habe gebetet. Das ist das einzige, was mir in der Knastzeit geblieben ist. Das Weinen habe ich verlernt und das Lachen auch. Den Satz ,Das Lachen wird Dir schon vergehen' habe ich zu oft gehört."

Charly hat sich taufen lassen. Er kümmerte sich um Strafgefangene und half, sie auf das Leben in Freiheit vorzubereiten. Bis Ende 1998 hatte er eine ABM-Stelle in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Seitdem ist er arbeitslos - einen Beruf konnte er zu DDR-Zeiten nicht lernen. Die Führungen macht er jetzt ehrenamtlich. Manchmal habe er sich zwar gefragt, ob er im Knast nicht doch etwas wegbekommen habe, wenn er jetzt schon wieder freiwillig hinter Gitter geht, aber: "Es macht auch Spaß, und ich habe dadurch meinen Hass verloren." Und es macht ihm nicht einmal mehr etwas aus, dass in der Nähe seiner Wohnung heute zwei Männer leben, die für das, was er erlitten hat, Verantwortung tragen: einer ist sein Stasi-Spitzel, der andere Stasi-Chef Erich Mielke

Die Besucher sind gegangen. Charly sitzt im Aufenthaltsraum mit Kaffee und Zigarette. Stolz öffnet er einen Schrank, holt eine Mappe heraus. Oben ein Autogramm-Foto von Theo Waigel, darunter viele Faxe, Briefe und Karten: Mehrere 10 0000 Besucher - schätzt er - hat er durch die Gedenkstätte geführt. Minister waren darunter, 40 Generäle aus aller Welt und eine Gruppe von Israelis und Arabern. "Ich denke, ich bin den richtigen Weg gegangen."

Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 48 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 05.12.1999

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