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Aushalten - der Löwe

Die Konsolen in St. Sebastian (4)

An der Konsole einer Gewölberippe im Chor der Kathedrale St. Sebastian in Magdeburg entdeckt das Auge des suchenden Betrachters als Halbrelief das Bild eines Löwen. Er ist liegend dargestellt. Die Haltung verrät eine Spannung. Diese wird unterstrichen durch die Mähne, deren gleichmäßige Wellen der Körperlinie folgen. Die Konsole bildet einen engen Rahmen für die Löwengestalt. Das Hinterteil ragt über den Rand hinaus. So hat der Bildhauer den Schweif zwischen den Hinterläufen hindurchgeführt, von wo aus er sich nun mit seiner Quaste schwungvoll über den Körper erhebt. Seiner Bedeutung als Tier und als Symbol entsprechend hebt sich die Löwenfigur in glänzendem Gold von einem dunkelblauen Hintergrund ab. Realistisch rot hängt die Zunge aus dem hechelnden Maul. Nachdenklich blicken blaue Augen in eine unbestimmte Ferne. Die Nase und die Augenpartie sind so geformt, dass der Kopf fast menschliche Züge hat. Damit führt uns das Bild aus dem Bereich der Darstellung in den Bereich der Symbolik, einer auf den Menschen bezogenen Deutung

Wo in der Natur der Löwe vorkommt, hat er immer schon die Phantasie der Menschen beflügelt. Sein Bild ist in kulturelle und religiöse Vorstellungen eingedrungen und hat mit deren Ausstrahlung auch in entfernteren Gebieten Verbreitung gefunden. Als Tierkreiszeichen hat der Löwe auch "den Himmel erobert". Mit seiner Mähne, welche goldfarben das mächtige Haupt des Löwen umwallt, wurde er zum Bild der Sonne in ihrem Strahlenglanz und mit seiner Stärke und Gefährlichkeit ein Abbild ihrer sengenden Glut. So beherrscht das Tierkreiszeichen Löwe den Hochsommer, in welchem die Sonne die höchste Zunahme ihrer Kraft erreicht. Damit ist der Löwe ein Bild unbändiger Kraft, des gefährlichen Stolzes, einsamer Größe und verzehrender Leidenschaft. Die Konsole mit dem beschriebenen Bild des Löwen befindet sich an der Südwand des Chores der Kathedrale. Das lässt auf seine Symbolik schließen. Größe, Wildheit, Stolz, Feuer, Macht können sich zerstörerisch auswirken. Aber beherrscht wird Wildheit zu Kraft, Macht zu aufbauender Stärke, Feuer zu einem lebenserhaltenden Element, Größe zu Erhabenheit. So steht an dieser Stelle der Löwe als Symbol für die Umwandlung des ungebändigten Willens in die wahren menschlichen Kräfte: Mut, Stärke, Einsatz, Hingabe

Das wird im Bild noch einmal dadurch unterstrichen, dass auf der Konsole mit dem Löwensymbol die Gewölberippe wie ein Ausrufezeichen zu sehen ist. Die Rippe zeigt, welche Kräfte in der Baukonstruktion des Gewölbes und der Wand am Wirken sind. Last muss abgefangen, Druck abgeleitet werden. Es herrscht das Gesetz des Ausgleichs bei Aufrechterhaltung, ja geradezu unter Ausnutzung von Druck, Spannung und Last. Der gekonnte, scheinbar spielerische Umgang mit dem Gesetz der Schwerkraft in den Bauteilen ist Ausdruck einer geistigen Freiheit. Aber diese Freiheit hat einen Preis, im Materiellen wie im Geistigen. Der Preis ist das Aushalten von Spannungen, das Fertigwerden mit Gegensätzen. Löwe und Gewölberippe sind Ausdruck gebändigter Kraft. Vor diesem Symbol stehen wir als Betrachter. Auch wir erleben Spannungen, stehen "unter Druck", sind beeinflusst von Kräften und Mächten. Und wir müssen das aushalten, in uns aushalten - und verwandeln. Wir begegnen im Bild der Wirklichkeit. Die Vorgabe wird für uns zur Aufgabe

Ludwig Stegl

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 49 des 49. Jahrgangs (im Jahr 1999).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.12.1999

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