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Bistum Dresden-Meißen

Abseits und doch mittendrin

Bahnhofsmission Leipzig

Leipzig - Weit hinten an der Westseite des Leipziger Hauptbahnhofs öffnet sich eine unscheinbare Tür. Ein bärtiger Mann in schmutzigen Sachen schlurft hinaus in den kalten Februartag. Die Sonne scheint. Kurz zuvor hat der Mann noch im Aufenthaltsraum der ökumenischen Bahnhofsmission gesessen und Tee getrunken, vielleicht ein paar Worte mit einem Mitarbeiter der Einrichtung gewechselt. Kaum ist der Bärtige weg, schlüpft an diesem Freitagvormittag eine junge Frau mit einem "Hallo" zur Tür herein. Strähnige Haare, blass, dunkle Schatten unter den Augen. Den warmen Tee und die Menschen, die sie erwarten, werden ihr wohl tun.

Durchschnittlich 25 sozial Bedürftige - Drogenabhängige, "Penner", Prostituierte - schauen täglich in der Mission vorbei. Egal, welches Wetter gerade herrscht. Sie sind ein Teil des Alltags der Leipziger Bahnhofsmission. Des Teils, der sich abseits vom übrigen Leben auf dem Bahnhof abspielt. Den Blicken der Einkaufsbummler in den geputzten Promenaden entzogen. Für alle sichtbare Arbeit hingegen leisten die Mitarbeiter der Mission auf den Bahnsteigen, helfen Reisenden auf Wunsch beim Umsteigen, Koffertragen und Treppensteigen. Für die sozial Auffälligen sei der abseits gelegene Ort der Bahnhofsmission optimal, sagt Michael Oertel, stellvertretender Leiter der Einrichtung. "Hier fühlen sie sich beschützt, können in Frieden im Warmen sitzen. Aus dem Bahnhof werden sie von Wachdienst und Polizei vertrieben."

Für Reisende, die die Dienste der Bahnhofsmission nutzen möchten, bedeutet der dezentrale Ort hingegen ein Nachteil. "Bevor man uns gefunden hat, ist der Zug längst abgefahren", so Oertel. Deshalb müssten die Helfer der Mission ständig auf den Bahnsteigen präsent sein, müss-ten Hilfebedürftige ansprechen. Abseits und Mittendrin. Reagieren und Agieren.

Täglich lassen sich die drei hauptamtlichen Mitarbeiter und die über 30 Helfer auf diesen Spagat ein. Im Dezember vergangenen Jahres kümmerte sich die Bahnhofsmission Leipzig um über 1800 Frauen, Männer und Jugendliche. Mit einer kleinen Andacht am Beginn jedes Tages stimmen sich die Mitarbeiter auf ihren Dienst am Menschen ein, tanken Kraft. An diesem Freitagmorgen hat Michael Oertel Gedichte aus Lettland vorgetragen, nachdem der Tee gekocht und das Geschirr bereit gestellt worden war. "Für mich und meine Arbeit spielt der christliche Glaube eine große Rolle, ohne ihn jedoch anderen aufzwingen zu wollen", sagt Michael Oertel. Ab 8.30 Uhr ist die Mission geöffnet und "Penner" sind pünktlich. "Wenn's klingelt, ist es halb neun", heißt es deshalb in der Bahnhofsmission. "Manche der ,Penner' bleiben den ganzen Tag bei uns, andere nur kurz, um mit einem Mitarbeiter zu quatschen. Prostituierte holen sich Kondome ab", erzählt der Sozialpädagoge in Ausbildung.

Die Gemütszustände der Besucher ändern sich häufig und schnell. "Einer, der heute noch lacht, will sich morgen das Leben nehmen", so Oertel. Diesen Extremen begegnen die Mitarbeiter zunächst distanziert. "Außer in absoluten Notfällen fragen wir nicht viel, sondern lassen die Leute reden." Während Michael Oertel vom Missions-Alltag berichtet, machen sich zwei Mitarbeiterinnen auf den Weg zu den Bahnsteigen. "Zur Zeit kommen wieder viele Aussiedler in Leipzig an, zwischen zehn und 70 am Tag. Sie fahren weiter in die Landesaufnahmestellen von Thüringen und Sachsen", kommentiert Oertel.

Manchmal - wenn Sponsoren helfen - hält die Bahnhofsmission Tee, Obst und Bonbons für die Kinder der Aussiedlerfamilien bereit. "Die Aussiedler haben Angst, selbst um Hilfe zu fragen. Daheim schimpft man sie Faschisten, in Deutschland Russenschweine", weiß Oertel. Die Mitarbeiter der Bahnhofsmission gehen auf sie zu und geben ihnen beim Umsteigen Orientierung - genau so selbstverständlich, wie sie an anderer Stelle etwa der alten Dame oder dem blinden Mann unter die Arme greifen. Nur manchmal fühlen sich selbst erfahrene Helfer der Mission überfordert: "Neulich tippte mich im Bahnhof eine Frau hinten auf die Schulter und fragte, wo sie eine Batterie für ihr Blutdruckmessgerät herbekäme", erzählt Michael Oertel schmunzelnd. In diesem Fall musste er passen. Markus Tichy

Kontaktadresse: ÷kumenische Bahnhofsmission Leipzig, Hauptbahnhof Westseite (außerhalb des Bahnhofes) Willy-Brandt-Platz 2, 04103 Leipzig, Telefon 9 68 32 54, Fax: 9 68 32 54. Sprech-/÷ffnungszeiten zwischen 8.30 und 17 Uhr, jeden letzten Donnerstag im Monat nur 8.30 bis 12 Uhr

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 7 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 13.02.2000

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