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Ein seltsamer Mann

Konsolen in St. Sebastian

Ein seltsamer MannMein erster Eindruck: Komisch! Das Gesicht eines farbigen Mannes mit dunklen Haaren, roten Lippen und großen, erschreckend großen Augen. Und aus seinen beiden Nasenlöchern wachsen keine Haare, sondern zwei Blätter heraus, hochgezwirbelt wie bei einem Oberlippenbart. Was mag das nur für ein komischer Heiliger sein? Und wie kommt dieser farbige Mann in die St.-Sebastians-Kathedrale nach Magdeburg, mitten in Deutschland?

Mit meiner Frage nach dem Woher und dem Wohin hat mich dieser fremde Mann mit den großen Augen in seinen Bann gezogen. Seine dunkle Hautfarbe lässt eine rasche Antwort zu. Vielleicht ist er ein Gefolgsmann aus der Truppe des heiligen Mauritius, des Heiligen aus dem fernen Afrika, der ein Patron des monumentalen Doms zu Magdeburg ist. Und dieser Dom steht nur eine Rufweite von der Sebastianskirche entfernt. Da kann man schnell vom Dom zur Kirche gelangen und dann dort festgehalten werden, um eine Aufgabe zu erfüllen. Seine Aufgabe ist es, als Konsolenträger eine Last auf sich zu nehmen, um das Chorgewölbe im statischen Gleichgewicht zu halten. Oder ist er aus der Begleitung der Heiligen Drei Könige nach Magdeburg in die Kirche gekommen? Ein Begleiter der Weisen, die sich vom Stern so sehr angerührt gefühlt haben, dass sie sich auf einen weiten Weg gemacht haben und von diesem Stern zur Krippe, zu Jesus, zum christlichen Glauben haben führen lassen. Auf jeden Fall spiegelt dieses für Magdeburg fremdartige Gesicht ein besonderes Schicksal wieder

Wenn man eine Last auf den Kopf gelegt bekommt, dann muss man sie ganz besonders genau ausbalancieren, um sie auch mit dem Kopf tragen zu können. Die auferlegte Last muss mit der eigenen Körperhaltung in ein Gleichgewicht gebracht werden. Nur mit höchster Konzentration und nur vom Inneren heraus kann man dieses Gleichgewicht erfühlen und realisieren. In solchen Momenten der höchsten Konzentration sind alle Sinne angespannt, die Augen als Sinnesorgane ganz weit aufge rissen, obwohl sie von der äußeren Umgebung kaum etwas wahrnehmen und nur nach innen, auf das Erreichen eines Gleichgewichtsgefühls gerichtet sind. Eine solche Erfahrung hat man doch im Leben schon gemacht: Überraschend, aus heiterem Himmel fällt eine schwere Last auf einen, die das bisher gewohnte Leben völlig durcheinander-bringt. Da schaut man ganz besonders intensiv und konzentriert in sich hinein, um zu sehen, wie man das Gleichgewicht des Lebens trotz dieses Schicksalsschlags wiederfinden kann, wie man Kräfte in sich entdecken, oft neue, bisher ungeahnte Gegenkräfte entwickeln kann, die die größer gewordene Last des Lebens zu tragen und seelisch zu ertragen möglich machen. Der in der Kirche betende Mensch, der hinaufschaut und zugleich sich innerlich versammelt, weiß: Gott ist und gibt diese Lebenskraft, er ist und gibt der Seele das Gleichgewicht

Oder schaut der Mann doch erschrocken drein? Denn da kann einen schon der Schrecken packen und einem aus den Augen schauen, wenn man sich plötzlich bewusst wird, welch eine Last man zu tragen hat an der Stelle, auf die man im Leben gestellt wurde. Ich meine jedoch: Er schaut mit großen Augen auf das, was mit ihm geschieht. Seine Augen sind ein Bild der Konzentration, der Betroffenheit auch, und vor allem der Verwunderung. Wer sich wundert, wer sogar verwundert ist, ist voll von dem Wunder, wie ein verwilderter Mensch voller Wildheit, Zügellosigkeit und Anarchie ist. Was mit dem Mann geschieht bzw. schon geschehen ist, was der distanzierte Betrachter an ihm sieht, ist wahrlich wunderlich: Da wachsen einem Menschen aus seinen Nasenlöchern doch tatsächlich zwei Weinranken mit wunderschönen, saftig grünen und - oh Wunder - goldverzierten Blättern heraus! Und was das größte Wunder ist: An diesen Ranken sind pralle Reben, reife Trauben! Wen würde es nicht verwundern, wenn so etwas Außergewöhnliches, sogar Außernatürliches mit ihm geschähe. Wie kann das überhaupt passieren? Das gibt es doch in der Wirklichkeit nicht. Welches Geheimnis steht dahinter?

Eine mögliche Deutung wäre: Aus dem Inneren dieses Menschen erwachsen nicht nur goldverzierte Ranken, sondern auch in einer ausbalancierten Harmonie links und rechts vom Kopf goldene Reben und Trauben. Dieser Mensch trägt kostbare Früchte in sich und bringt sie hervor. Damit wird der Konsolenträger zu einer bildlichen Darstellung der Worte Jesu in seiner Abschiedsrede an die Jünger (Johannes, 15, 1-5): "... Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben; wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; ..." In dem Gleichnis von Jesus als dem wahren Weinstock und den Jüngern als den Früchten / Reben manifestiert sich die wunderbare Verbindung zwischen Gott und Mensch. Das Rankenornament ist mit Gold verziert, die Weintrauben sind ganz aus Gold. Das Gold symbolisiert die größte Kostbarkeit im Irdischen und ist gleichzeitig ein Abglanz des Himmlischen. Wie kostbar ist der Mensch, der das aus sich hervorbringt und hingibt.

Von seinem Platz im Chor der Kirche schaut er auf den Altar hernieder. Was er dort sieht, ist etwas ganz Unerhörtes, Unübersehbares, Einmaliges: Das Geheimnis der Wandlung von Brot und Wein in Christi Leib und Blut: Das Kostbarste, das Gott in seiner Hingabe den Menschen geben kann. Da gehen ihm die Augen über, wenn er den Kelch mit dem konsekrierten Wein, dem Blut Christi, den Kelch des neuen Bundes zwischen Gott und den Menschen auf dem Altar sieht. Weinranken und Reben sind die im Bild sinnhaft gewordene Antwort des Menschen auf die Hingabe Gottes in der Kommunion.

Mein Eindruck am Schluss der stummen und doch beredten Zwiesprache mit dem Mann da oben: Du bist mitten in unserem Leben, du wundervoller Mitbruder, und entfachst den Wunsch, zu dir und zu Gott ganz nahe zu kommen.

Dietmar Gotzhein

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 10 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 05.03.2000

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