Lautlose Sprache der Hände
Gehörlosengemeinde Dresden
Dresden - Während der Predigt sind die Hände von Pfarrer Alfred Bock unablässig in Bewegung. Bei ihm ist das keine Frage des Temperaments, sondern der Verständlichkeit. Die Gottesdienstbesucher in der Kapelle des St.-Michaels-Heimes in Dresden sind darauf angewiesen: Sie sind gehörlos. Jedes Wort aus seinem Mund begleitet Pfarrer Bock mit der entsprechenden Gebärde. Bei dem Satz etwa: Wir trauern um die verstorbene Großmutter und beten für sie, reibt seine Hand kreisförmig auf der Brust, dann streicheln zwei Finger seine Wange, schließlich legt er die Handflächen aneinander. Die Gehörlosen hängen mit den Augen an ihm, Bild für Bild lesen sie.
Dass Pfarrer Bocks Predigt nie viel länger als acht Minuten ist, hat seinen guten Grund: "Die Gehörlosen müssen die ganze Zeit über konzentriert auf mich blicken. Wenn sie auch nur für einen Moment wegschauen, haben sie schon den Faden verloren." Mit wenigen Worten erzählt er die Geschichte der Begegnung Jesu mit den Jüngern aus dem Johannes-Evangelium. Nebensätze benutzt er kaum. Eine äußerst verknappte Sprache, die aber nicht primitiv ist. Als Gehörlosenseelsorger ist Alfred Bock im gesamten Bistum Dresden-Meißen unterwegs. In Chemnitz, Leipzig und Dresden organisiert er jeweils an einem Sonntag im Monat ein Treffen. Bei den Zusammenkünften im Dresdner St.-Michaels-Heim versammeln sich jedesmal zwischen 30 und 40 Gehörlose aus dem gesamten Regierungsbezirk. Nahezu alle Altersgruppen sind vertreten.
Die Gebärdensprache musste der Pfarrer sich autodidaktisch aneignen, als er 1968 gebeten wurde, die Gehörlosenseelsorge zu übernehmen. Eine Ausbildung gab es nicht. "Da habe ich eben viel gefragt und mir alles notiert", erzählt er. Eine praktische Ader hat er schon früh entwi- ckeln müssen. 1938 im schlesischen Hermsdorf geboren und 1948 ins erzgebirgische Oelsnitz umgesiedelt, lernte er nach der Grundschule erst einmal Grubenelektriker, ehe er sein Theologiestudium in Erfurt begann.1966 wurde er Priester. Er kam in eine Geraer Gemeinde; Geising, Leipzig und Wermsdorf waren seine nächsten Stationen. Seit 1984 arbeitet er in Dresden. Neben der Betreuung der Gehörlosen vor allem als Seelsorger in sechs Dresdner Krankenhäusern, seit acht Jahren zusätzlich in der Untersuchungshaftanstalt.
Gebärden entstehen durch Vereinbarung. Wie kompliziert das bei religiösem Vokabular werden kann, das erlebte Bock bei dem Wort "Himmelreich". Die Gehörlosen setzten es aus zwei Gebärden zusammen: Mit beiden Händen beschrieben sie zunächst einen großen Himmels-Bogen, dann rieben sie Daumen und Zeigefinger einer Hand aneinander wie beim Geldzählen. Mittlerweile hat sich Bock mit ihnen auf ein neues Handzeichen geeinigt. Jetzt symbolisiert ein zweiter, waagerecht beschriebener Kreis "Reich" als großes Gebiet und nicht mehr als begütert sein.
Für Hörende sind die schnellen Handbewegungen zumeist eine unverständliche Fremdsprache. Gehörlosen wiederum bleibt ohne Schrift oder Gesten alles Gesprochene verschlossen. Die so entstehende Isolation soll mit den Zusammenkünften etwas aufgebrochen werden. Deshalb sind neben dem Gottesdienst auch Informationen wichtig, die Alfred Bock hier weitergibt. Das reicht von der Weltpolitik bis zu juristischen Fragen und konkreter Lebenshilfe. Obwohl fast alle Teilnehmer auch Veranstaltungen des Gehörlosenverbandes besuchen, seien ihnen die sonntäglichen Treffen als etwas Besonderes zum Bedürfnis geworden, erzählt Bock. "Der Kreis ist überschaubar, da geht es fast familiär zu." Hier könne man auch mal Emotionen rauslassen, spüre jeder, dass er nicht allein ist. Und er als Seelsorger wiederum fühle sich durch die Dankbarkeit und Freude der Gehörlosen jedesmal beschenkt. "Nur so ist diese Aufgabe zu bewältigen."
Tomas Gärtner
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.03.2000