Wer war Judas
Passionsgeschichte (Teil 1)
Pilatus, Judas, Kajaphas - bekannte Namen aus der Leidensgeschichte Jesu. In seiner neuen Artikelserie geht der Erfurter Neutestamentler Claus-Peter März diesen und anderen Personen der Passionsgeschichte nach. Von ihnen her soll das historische Geschehen des Leidens und Sterbens Jesu durchsichtiger gemacht werden:
Die Evangelien zeichnen ein durchweg negatives Bild von Judas: Er ist der "Verräter", der in der entscheidenden Stunde die Fronten wechselt und Jesus um den Lohn von 30 Silberstücken an die Tempeloberen ausliefert. Über Einzelheiten erfahren wir kaum etwas, statt dessen wird darauf verwiesen, dass er ein schlechter Mensch war, der das Geld der gemeinsamen Kasse veruntreute. Letztlich erscheint er als Werkzeug des Teufels. Nach dem Matthäus-Evangelium erhängt er sich mit einem Strick, nach der Apostelgeschichte stürzt er sich zu Tode; spätere Berichte malen das Geschehen noch weiter aus. Entscheidend ist offenbar nur der Hinweis, dass Judas den Tod eines Frevlers stirbt.
Man spürt, dass die Evangelis-ten über Judas nicht objektiv berichten können, sondern letztlich ein "Feindbild" zeichnen. Zu tief sitzt der Schock über sein Ausscheren aus der Jüngergemeinde, als dass es durch früheres Wohlverhalten aufgewogen werden könnte. Alles, was er einmal im Jüngerkreis gewesen sein mag, wird aufgesogen von der Vorstellung, dass er der "Verräter" ist. Man muss deshalb, um den Geschehnissen auf die Spur zu kommen, hinter jene schematische Darstellung der Evangelien zurückzufragen: Was wissen wir wirklich über Judas?
Judas trägt den Beinamen "Iskariot", der schwer zu deuten ist. Am wahrscheinlichsten ist immer noch dessen Verständnis als Herkunftsbezeichnung, die ihn als "Mann aus Kerijot" kennzeichnen würde. Er würde dann aus dem judäischen "Kerijot" (vgl. Jos 15,25) stammen und wäre somit wohl der einzige unter den Zwölf, der nicht aus Galiläa stammt. Möglicherweise hat er deshalb "landsmannschaftlich" eine Sonderrolle im Zwölferkreis gespielt. Er ist Jesus nachgefolgt, ist von ihm in dem Zwölferkreis gerufen worden, er hat das Wanderleben Jesu geteilt, mit den anderen Boten das Kommen des Reiches Gottes verkündigt und tritt sonst aus der Gruppe der Zwölf nicht hervor.
Als aber Jesus mit seinen Jüngern zum Pascha nach Jerusalem geht und es dort zur Konfrontation mit den Hohenpriestern kommt, verschafft Judas ihnen die Möglichkeit, Jesus ohne größeres Aufsehen zu verhaften. Das ist sein Verrat. Er hat nicht die Verhaftung Jesu initiiert, nicht Material über Jesus gesammelt und den Hohenpriestern in die Hände gespielt, keine Anzeige gegen ihn vorgebracht und ist auch nicht als Zeuge im Prozess Jesu aufgetreten. Er hat vielmehr ermöglicht, dass die von Hohenpriestern betriebene Verhaftung ohne allen öffentlichen Tumult vonstatten ging. Offensichtlich hat er das Verhaftungskommando zu Jesus geführt, als dieser fernab von der Öffentlichkeit mit seinen Jüngern allein war und so eine Verhaftung ohne Gegenwehr ermöglicht. Für die weitere Entwicklung der Passionsgeschichte hat er keine Bedeutung.
Die Evangelien begründen die Entscheidung des Judas entsprechend ihrer schematischen Darstellung mit seiner Geldgier oder damit, dass der Teufel ihn verführt habe. Fragt man hinter dieses negative Bild zurück, dann sind wir auf Spekulationen angewiesen.
Am wahrscheinlichsten ist immer noch die Annahme, Judas sei in seinen Erwartungen enttäuscht worden und deshalb an Jesus irre geworden. Hinzu mag auch kommen, dass die Jünger in der Nachfolge Jesu zunehmend in die Konfrontation mit anderen Gruppierungen des damaligen Judentums geführt worden sind. In der Tempelreinigung eskalierte der Konflikt mit den Tempeloberen. Da Judas mit ihnen kooperierte, liegt die Vermutung nahe, dass er deren Einschätzung der politischen Situation teilte und Unruhen in der Bevölkerung befürchtete. Die Tatsache, dass sich seine Hilfe darauf beschränkte, die ohnehin geplante Verhaftung Jesu ohne öffentlichen Tumult zu ermöglichen, scheint in die gleiche Richtung zu weisen.
Über das weitere Schicksal des Judas wissen wir nichts. "Seinen Bruch mit der Jesusbewegung betrachtete Judas als endgültig ... Die christliche Gemeinde verlor ihn in kürzester Zeit völlig aus dem Auge ... Wann er wirklich gestorben ist, wusste niemand mehr. Nur deshalb konnten sich um seine Gestalt und seinen Tod so viele erfundenen Geschichten ranken" (H.-J. Klauck).
Claus-Peter März
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.03.2000