Wege und Abwege
Pater Damian
Aus einem Schulaufsatz: "Unser Heimatdorf. Außer der Hauptstraße, welche das Rathaus, die Apotheke sowie die Gasthöfe zum Adler, Ochsen und Lamm enthält, gibt es noch zwei Abwege, von denen der eine zur katholischen, der andere zur evangelischen Kirche führt." In seinem unfreiwilligen Humor kennzeichnet der Schüler die Situation der christlichen Kirchen hier und heute, wie sie sich weithin darstellt. Sie liegen nicht an der Hauptstraße des Lebens, sondern an Nebenwegen - "Abwegen" -, sind nicht Hauptsache, sondern Nebensache.
Die wichtigen, die Menschen bewegenden Fragen und Probleme werden an der Hauptstraße, also im Zentrum, gestellt und gelöst: Politik und Verwaltung - Stichwort "Rathaus" -, Gesundheit - Stichwort "Apotheke" -, Essen und Trinken, Geselligkeit - dafür stehen die drei Gasthäuser. Aber stimmt dieses Bild? Manche Kritiker der Kirche meinen: Die Kirche antwortet auf Fragen, die die meisten Menschen nicht stellen, und lässt die drängenden Fragen unbeantwortet. Geht sie und predigt sie am Leben vorbei?
Um Leben, um volles Leben muss es ihr aber allemal gehen. Das ist nämlich das große Anliegen von Jesus Christus, der von sich sagt: "Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10). Kirche, die Gemeinde der Glaubenden, steht an der Hauptstraße, mitten im Leben, und sie steht ein für ein volles und sinnvolles menschliches Leben: Für Gesundheit und Wohlergehen, Glück und Frieden, Freiheit, Zukunft. "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände" (Vat.II, Gaudium et Spes, l). Es ist also nicht "abwegig", mitten aus dem Leben heraus von der Kirche Hilfe für ein "Leben in Fülle" zu erwarten.
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.03.2000