Kapitalismus als Religion
Akademievortrag in Halle
Halle (dw) - Den Gott des ersten Gebotes stellte der Dortmunder Theologie-Professor Thomas Ruster bei einer Akademieveranstaltung in Halle in Bezug zum Kapitalismus, der - so Rusters These - Züge einer Naturreligion trägt. Bei der biblischen Forderung "Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" gehe es um die Freiheit von unterdrückenden Mächten, die Erlösung von der Macht des Faktischen, lautete Rusters Grundthese bei der Veranstaltung im Rahmen der ostdeutschen Akademiereihe zur Aktualität der Zehn Gebote.
Für den nicht eindeutig definierbaren Religionsbegriff fand er zwei wesentliche Kriterien: Religionen weisen für Außenstehende Züge des Irrationalen auf. Sie sind verbunden mit der Erfahrung einer machtvollen, alles bestimmenden Wirklichkeit.
Die Irrationalität des Kapitalismus - vergleichbar mit der Irrationalität bestimmter religiöser Opferriten - machte der Professor für systematische Theologie an Beispielen deutlich: Einerseits beteuerten alle Wirtschaftsvertreter, ihr höchstes Ziel sei die Abschaffung der Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig würden gegenwärtig fast täglich neue Firmenfusionen gemeldet, die mit Entlassungen verbunden seien. Obwohl mehr Geld gehandelt werde als man brauche, um alles zu kaufen, was es auf der Welt gibt, nähmen die Geldgeschäfte immer mehr zu.
Das Irrationalste sei, dass dergleichen gar nicht mehr als irrational empfunden, sondern so angenommen werde, als sei es von einer höheren Macht so bestimmt.
Neue Marktentwicklungen würden mit religiöser Ergebenheit hingenommen, machte er am Beispiel der Dortmunder Universität deutlich: Alles Geld werde dort in neue Computertechnik gesteckt. Das Erlernen der ständig veränderten Computerprogramme dauere in den geisteswissenschaftlichen Fächern seiner Ansicht nach länger als die Zeitersparnis. Dennoch stelle niemand eine Kosten-Nutzen-Rechnung an. Nachteile wie arbeitslose Sekretärinnen, Setzer und Lektoren, schlechtere Druckqualität, höherer Papierverbrauch, weniger Kommunikation und dadurch größere Einsamkeit der Universitätsmitarbeiter würden ohne zu fragen akzeptiert.
Diese Beobachtungen stellte Thomas Ruster in Zusammenhang mit dem Begriff des "Heiligen" im Christentum und in anderen Religionen. Das "Heilige" sei in den meisten Religionen und lange Zeit hindurch auch im Christentum das "Machtvolle" gewesen. Die Erfahrungen mit den jeweils Mächtigen seien im Christentum auf den Gott der Bibel projiziert worden.
Heute gelinge das nicht mehr, das hänge damit zusammen, dass es nicht möglich sei, "Gott und dem Mammon zugleich zu dienen". Nicht zuletzt darin liege die aktuelle Krise des Christentums begründet - eine Krise, die Professor Ruster positiv bewertet, weil mit ihr Fehlentwicklungen unterbrochen würden.
Der Kapitalismus habe wie jede Religion mit dem Problem von Schuld und Sühne zu tun. Er sei "vermutlich der erste Fall eines nicht versühnenden, sondern verschuldenden Kultus", sagte Ruster. Die Idee der Knappheit werde heute vom künstlich knapp gehaltenenen Geld sogar auf Werte wie Freude, Heiterkeit oder Liebe übertragen, die eigentlich nie knapp werden können.
Der Schriftsteller Walter Benjamin (1892-1940) habe es als "Geisteskrankheit der kapitalistischen Epoche" bezeichnet, das Leben als Kampf um knappe Güter zu betrachten. Wer Geld und Güter für die Zukunft horte aus Sorge, es könne später einmal knapp werden, der mache die Gegenwart arm. Hohe Zinsen und Spekulation seien Ausdruck dieser Sorge und trügen zur Armut bestimmter Bevölkerungsschichten und zur Ungerechtigkeit bei.
In diesem Licht betrachtete der Referent auch die biblischen Zinsverbote: Sie seien Ausdruck der Einsicht, dass das für alle Lebensnotwendige nicht künstlich verknappt werden dürfe. Die ökonomischen Grundlektionen der Bibel lägen in Jesu Aufruf: "Sorget euch nicht ..." und in der Vater-unser-Bitte um das tägliche, nicht aber um das morgige Brot.
Der bis in den letzten Winkel der Welt vorgedrungene Geist des Kapitalismus habe die Menschen gelehrt, mit der Schuld an einem Teil der Menschheit und an der Umwelt zu leben, die unser Wirtschaften anrichte. Das erste Gebot richte sich gegen eine fatalistische Weltsicht. Es weise darauf hin, dass nichts ausweglos oder endgültig sei. An Gott zu glauben bedeute, gegenüber übermächtig Scheinenden handlungsfähig zu bleiben.
Die Zehn Gebote riefen keinesfalls zur Bescheidenheit auf. Christen und Juden könnten im Bewusstsein der Fülle leben. Aus diesem Bewusstsein heraus werde die Welt gerettet.
Mit seiner religionswissenschaftlichen Kapitalismus-Sicht verfolge er nicht das Ziel, die aktuelle Wirtschaftsform und die Benutzung von Geld rigoros zu verteufeln, betonte Ruster im Laufe seines Vortrages immer wieder. Er wolle zum Nachdenken anregen über Entwicklungen, die auch unter Christen oftmals schicksalsergeben hingenommen würden.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.03.2000