Von der Rose gelebt
Pater Damian
Bei einem Gang durch unsere Innenstädte trifft man sehr wahrscheinlich auf Bettler. Manche sitzen stumm und apathisch an einer Hausmauer und starren vor sich hin. Wenn ein Passant einige Münzen in ihren Hut wirft, nicken sie mit dem Kopf als Zeichen des Dankes. Es geschieht praktisch keine Kommunikation zwischen Geber und Empfänger. Die meisten werden das wohl auch so wollen: Der Bettler will sein Almosen, und die Passanten möchten sich nicht weiter mit ihm beschäftigen. Aber kann man dessen so sicher sein? Ich habe die Erfahrung gemacht, wie dankbar manche Bettler sind, wenn man sich neben der geldlichen Unterstützung auf ein kurzes Gespräch mit ihnen einlässt. Dann fühlen sie sich als Menschen angesprochen, nicht nur als Sozialfall. Und es gibt auch Kommunikation ohne Worte.
Von dem Dichter Rainer Maria Rilke wird folgende Begebenheit erzählt: Vor der Kirche Notre-Dame saß eine alte Bettlerin, die ohne erkennbare Gemütsbewegung, auch ohne Dank, die großen und kleinen Geldstücke der Vorübergehenden in Empfang nahm. Mit seinem Freund kam Rilke des öfteren an der Bettlerin vorbei. Eines Tages schenkte er ihr eine Rose. Da ging eine erstaunliche Verwandlung in der alten Frau vor sich. Sie blickte auf, küsste die Hand des Dichters, erhob sich mühsam von ihrem Platz auf den Stufen der Kirche und verschwand.
Acht Tage lang war sie auf ihrem Stammplatz nicht mehr zu sehen. Schon hatte man Sorge um die alte Frau; doch als sei sie nur verreist gewesen, nahm sie nach diesen acht Tagen ihre Betteltätigkeit wieder auf. Als man sie fragte, wovon sie in der vergangenen Woche gelebt habe, sagte sie: Von der Rose. Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 02.04.2000