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Aus der Region

Die weiße Weste riskieren

Wolfgang Tiefensee

Wolfgang Tiefensee, Oberbürgermeister LeipzigsFrage: Ein politisches Engagement in dieser Form wäre zu DDR-Zeiten völlig undenkbar gewesen. Haben Sie damals darunter gelitten, sich nicht einbringen zu können?

Tiefensee: Ich habe damals sehr bedauert, keine politische Verantwortung übernehmen zu können. Schon als Student und später auch an meinen verschiedenen Arbeitsstellen konnte ich dies immer nur bedingt tun. Größeres Engagement hätte einen hohen Preis verlangt, nämlich den, sich weitgehend selbst zu verleugnen.

Frage: War Ihr christlicher Glaube Triebkraft zum politischen Engagement?

Tiefensee: Entscheidend war mein Elternhaus. Es hat meinen Blick fürs Politische geschärft und mich stark gemacht. Mein Jugendkaplan Claus-Peter März, Kantor Kurt Grahl - viele haben mich nachhaltig geformt. In der Studentengemeinde konnte ich demokratische Spielregeln praktizieren. Die Ökumenische Versammlung bot die Plattform für politische Diskussionen. Aus all dem erwuchs in den heißen Monaten 1989/90 mein politisches Engagement am Runden Tisch und in der Verwaltungsspitze. Insofern spielte der Glaube schon eine Rolle.

Frage: Gibt es Momente, in denen Sie sich in Gewissenskonflikten fühlen - zwischen dem Anspruch, als Christ zu handeln, und politischen Zwängen, beispielsweise bei Entscheidungen, die soziale Einschnitte zur Folge haben?

Tiefensee: Ich stolpere über das Wort Konflikt. Manchmal fällt es mir sehr schwer, schwierige Entscheidungen zu treffen, aber ich denke, dass man dies als Christ und aus einem christlichen Kontext heraus tun kann und muss, wenn man Verantwortung hat. Ich muss beispielsweise eine Entscheidung treffen, die Entlassungen zur Folge hat. Ich wäge lange ab und versuche, die Einzelschicksale der Betroffenen nicht aus dem Blick zu verlieren.

Frage: Und wie sieht es mit den sonntäglichen Ladenöffnungszeiten aus?

Tiefensee: Dieses Thema ist in der Öffentlichkeit häufig falsch oder verzerrt dargestellt worden. Die Stadt Leipzig hat zu keinem Zeitpunkt die generelle Freigabe des Sonntags für den Einkauf gefordert, sondern sich lediglich für eine angemessene Lockerung der Ladenöffnungszeiten in touristischen Zentren wie der Innenstadt Leipzigs eingesetzt. Mir geht es darum, dass die Stadt an drei oder vier Sonntagen im Jahr, anlässlich von Stadtfesten oder Festivals beispielsweise, auf gesetzlicher Grundlage eine Ausnahmegenehmigung erteilen kann. Die Öffnungszeiten, von denen die Rede war, lagen übrigens außerhalb der Gottesdienstzeiten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass in Wallfahrtsorten wie Altötting die Geschäfte jeden Sonntag öffnen dürfen.

Frage: Fühlen Sie sich als Politiker Versuchungen ausgesetzt, die Ihnen aus ihrem früheren Leben unbekannt sind?

Tiefensee: Politiker sind letztlich im Durchschnitt nicht besser oder schlechter als andere Menschen. Aber sie haben Entscheidungen mit weit reichenden Konsequenzen zu verantworten. Ich bin in die Politik und schließlich auch in die SPD gegangen, weil ich nicht passiv sein und mit "weißer Weste" die Beobachter- oder Meckerrolle einnehmen wollte. Um im Bilde zu bleiben: Verantwortung zu übernehmen, heißt für mich, mir die Hände schmutzig zu machen, Spannungen auszuhalten, nicht jedermanns Liebling zu sein und auch Fehler zu machen. Sicher hat Macht immer auch etwas mit Versuchung zu tun. Die Gefahr des Machtmissbrauchs lässt sich aber verringern. Ich versuche, ohne Vorurteile an die Dinge heranzugehen, gründlich zu prüfen, die verschiedenen Parteien in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, ohne sich nur von Partikularinteressen ablenken oder verführen zu lassen. Ich will weiter Visionen entwerfen und nicht nur im Tagesgeschäft gefangen sein.

Frage: Wie beurteilen Sie auf diesem Hintergrund die derzeitigen politischen Skandale?

Tiefensee: Es scheint mir wichtig, die unterschiedlichen Kategorien der Affären auseinanderzuhalten. Da gibt es Affären, in denen dienstliche und private Anliegen vermischt werden. Dann gibt es Politiker, die Gesetze brechen zum Wohle ihrer Partei; sie sind so weit abgehoben, dass sie die Mittel heiligen, weil sie Gutes bezwecken wollen. Und dann gibt es die persönliche Bereicherung.

Die Gefahr der ersten Kategorie lauert überall. Bei einem Arbeitstag von 14 bis 16 Stunden ist es oft schwierig, Dienstliches und Privates immer ganz streng auseinanderzuhalten. Die Schnittlinie ist manchmal nicht ganz klar zu ziehen. Wichtig scheint mir aber die Grundhaltung, peinlich darauf zu achten, beides nicht zu vermischen.

In der zweiten Kategorie liegt eine Verführung der Macht. Auch hier in Leipzig habe ich Menschen kennengelernt, die so überzeugt sind von ihren guten Vorhaben, dass sie dafür alle Mittel in Kauf nehmen. Die aktuellen Vorgänge, die Sie ansprechen, sehe ich nicht weit davon entfernt, weil die Akteure ebenfalls davon ausgehen, dass die Spielregeln nicht für alle gelten. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Demokratie davon lebt, dass die Machthabenden sich an die Spielregeln halten und kontrolliert werden. Die dritte Kategorie, also die, die bewusst in die eigene Tasche wirtschaften, ist die schlimmste und gehört ganz klar vor den Staatsanwalt. Ich wünsche mir für meine Arbeit wache Kritiker, die mir auf die Finger schauen, aber nicht vergessen, dass Politiker Menschen sind.

Frage: Wahlkämpfe scheinen besonders gefährliche Zeiten für "weiße Westen" zu sein. Fairer Umgang mit politischen Gegnern oder unerfüllbare Versprechungen sind nur Stichworte. Wie würden Sie sich selbst als Wahlkämpfer beschreiben?

Tiefensee: Als ich 1997 nominiert worden bin, habe ich den Parteifreunden gesagt: "Vielleicht wünscht Ihr Euch einen, der so richtig draufhaut auf den politischen Gegner. Den werdet Ihr in mir nicht finden." Ich habe mich in der Sache gestritten, aber nicht denunziert, und das bleibt meine Linie und Überzeugung. Manchmal war es für mich nicht leicht, das durchzuhalten. Ich bin mehrmals unter der Gürtellinie getroffen worden, zum Beispiel mit Rassismus- oder Betrugsvorwürfen. Ich habe bewusst darauf verzichtet, Aug' um Auge zurückzuschlagen.

Was Versprechungen angeht: Wenn man gewählt werden will, kämpft man mit großem Engagement und bewegt sich dabei mitunter an Grenzen zwischen Wünschenswertem und Möglichem. Die Versuchung ist, mehr zu versprechen, als man tatsächlich umsetzen kann. Aber das rächt sich. Ich bin da kein Heiliger. Aber ich habe mir eher auf die Zunge gebissen, als etwas Unerreichbares vorzugaukeln. In der Wahlkampfzeitung hatte ich eine Spalte veröffentlicht unter dem Titel "Woran Sie mich messen können". Ein Jahr später habe ich meine Mitarbeiter gebeten, diese Liste an der Realität zu überprüfen. Fast alles konnte ich einlösen. Stolz bin ich besonders auf die Einrichtung der Bürgerämter und des Stadtbüros, die zu mehr Bürgernähe, Transparenz und Dialogkultur beitragen.

Frage: Sie sind erst 1995 in die SPD eingetreten. Woher rührte ihre anfängliche Scheu vor dem Parteibeitritt?

Tiefensee: Das hängt mit meinen Vorbehalten zusammen, meine Unterschrift unter große Programme zu setzen, eine Organisation im Ganzen anzunehmen. Eine Parallele zur Kirche: Ich komme aus einem christlichen Elternhaus. Es gab bei uns zu Hause viele kontroverse Diskussionen, über die Rolle des Papstes, das Verhalten der Kirche im Zweiten Weltkrieg, über die Schuld, die die Kirche im Laufe der Geschichte auf sich geladen hat. Meine Eltern, die ganz unterschiedlichen Zugang zur katholischen Kirche hatten, haben mich fragen gelehrt. Ich sehe meine Position zur Kirche als ein langsam gewachsenes Liebesverhältnis, ähnlich wie bei einer Heirat, bei der man nicht nur zu den Schokoladenseiten ja sagt. Ich stehe auch zu dem, was ich lieber anders hätte.

Einen Parteibeitritt kann man natürlich nicht damit gleichsetzen, aber hier ist es mir noch schwerer gefallen. Ausschlaggebend war für mich dann wieder das Thema "weiße Weste" und die Erkenntnis, dass in unserer Demokratie Parteien wichtig sind, auch wenn sie dunkle Kapitel haben oder Fragwürdiges propagieren. Will man einer Medienmacht in der Politik entgegenwirken, muss man in die Niederung der Partei- oder Vereinsarbeit. Und so brauche ich die Basis der politischen Diskussion, an politischen Stammtischen, in Gremien im Ortsverein. Die SPD will Grundlinien in der Gesellschaft durchsetzen, die ich bejahen kann: Wirtschaftliche Entwicklung fördern unter strikter Beachtung sozialer Gerechtigkeit. Auch die Geschichte dieser Partei und Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann sprechen mich an. Und dennoch: Parteien sollten sich nicht so wichtig nehmen und sich auf ihre eigentlichen Aufgaben beschränken.

Frage: Fühlen Sie sich von der eigenen Kirche im politischen Engagement unterstützt?

Tiefensee: Ich nehme die auf vielen Ebenen angebotene Unterstützung für Kommunalpolitik gar nicht so sehr in Anspruch, vielleicht fehlt die Zeit, vielleicht bin ich zu selbstständig. Meine Erwartungen an die katholischer Kirche sind anderer Art.

In meinen Augen engagiert sie sich auch zu wenig in aktuellen Fragen. Das sage ich wohl wissend, dass Kirchen keine politischen Vereinigungen sind, die zu jedem tagespolitischen Thema eine Meinung verlautbaren müssen. Ich wünsche mir jedoch, dass sie stärker präsent wäre in der öffentlichen Wahrnehmung, dass sie ihre Stimme vernehmbarer erhebt zu gesellschaftlichen Themen. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit in Kindergärten und Jugendzentren. Obwohl Mittel und Kräfte knapp sind, würde ich der Kirche Mut machen, die Anstrengungen für Kinder und Jugendliche zu verdoppeln.

In diesem Zusammenhang bedaure ich auch das Ende der Ökumenischen Stadtakademie - ein ganz falsches Signal. Kirche müsste die Türen öffnen und mehr niederschwellige Angebote machen, also: Kirche auch außerhalb von Gotteshäusern erlebbar machen - und das besonders in einer Art religiöser Wüste, was die Bindung zu Kirchen im Osten angeht.

Interview: Dorothee Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 14 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 02.04.2000

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