Damit der Himmel unser Himmel ist
Kreuzweg VI
Hier ist alles zu Ende. So sagen die einen. Hier ist nun alles vollendet. So sagen die anderen. Hier ist nichts mehr zu machen. So lauten die Kommentare der einen. Hier ist alles ins Heil gebracht. So versuchen wir, das Geheimnis des Kreuzestodes in unsere schwachen und unfähigen Worte zu bringen. Der Kreuzweggestalter sagt dazu: "Jesus hat den Weg vollendet, der ihm in der Schriftrolle unter dem Kreuz bestimmt war. Die Mutter ist verzweifelt und muss von Johannes gestützt werden. Menschen, die Jesus kannten, wissen nicht mehr weiter und versuchen Halt zu finden. Auch die, die ihn angenagelt haben, bekehren sich und erkennen ihr Unrecht. Aber die Gräberfelder sind unendlich, und die Menschheit schlägt immer wieder unschuldige Menschen ans Kreuz."
Bei der zwölften Station des Eisenhüttenstädter Kreuzweges ragt das Kreuz unübersehbar hoch. So ergibt sich eine senkrechte Linie. Unten ist die Erde, dann sehen wir die Schriftrolle. Darüber ist das Kreuz aufgerichtet, und darüber ist der Himmel. Im Spannungsfeld zwischen Erde und waagerechtem Kreuzesbalken sind Menschen. Wir sind die Menschen "dazwischen". Wir müssen uns zwischen Erde und Himmel bewähren. In diesen Bewährungsproben schützt uns der waagerechte Kreuzesbalken. Aber wir verstehen das noch nicht. So kommt es, dass der im Blickwinkel des Kreuzes auf der linken Seite hockende Mann verzweifelt vor sich hinstarrt und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Seine Waffe ist als Zeichen der Resignation mit dem Lauf in die Erde getrieben. Es gibt nichts mehr, wofür er kämpfen und leben könnte. Die Drei auf der rechten Seite des Kreuzes stehen wenigstens aufrecht.
Aber es wird erst Ostern kommen müssen, ehe sie begreifen, was sie jetzt schon zu erahnen beginnen. Der Gekreuzigte hat seine Hände in der Gebärde der Opferung ganz weit nach oben geöffnet. So sind diese Hände ein ganz deutlicher Gegensatz zu den Händen der anderen bei diesem Kreuz. Nur die Hände Mariens sind den Händen des Herrn vergleichbar. Maria hat ihre Hände gefaltet. Die Kreuzwegstation des Todes Jesu ist nicht mehr mit einem Hintergrund gestaltet. Da ist keine Stadt in Plattenbauweise, kein dunkles Werkstor mehr. Nur hinter dem Soldaten sind Gräberfelder mit Kreuzen zu erkennen. Wenn dieses Kreuz so hoch in den Himmel ragt, dann ist der Himmel zu uns herabgekommen. Um das Kreuz ist Himmel, hinter Maria, Johannes und der anderen Frau ist Himmel, um die Schriftrolle ist Himmel. Um den verzweifelten und resignierten Soldaten ist Himmel. Um alle Friedhofskreuze der Welt ist Himmel. Jesus stirbt am Kreuz, damit der Himmel unser Himmel ist.
Klaus Weyers
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 16.04.2000