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Aus der Region

Trauer ohne Hass und Rache

Zurückgeblättert

Das jüdische Schicksal und vor allem die fast vollständige Vernichtung des europaischen Judentums durch die deutschen Faschisten ist das bestimmende Thema im Werk von Nelly Sachs.

Geschrieben hat sie von frühes-ter Jugend an. 1891 in einer großbürgerlichen, kulturvollen Berliner jüdischen Familie geboren, wurde sie hauptsächlich von Privatlehrern erzogen. Der Vater förderte ihre vielen künstlerischen Talente. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie nicht Tänzerin werden, was ihr Wunsch gewesen war.

1921 erschien ihr erstes, der schwedischen Dichterin Selma Lagerlöf gewidmetes Buch "Legenden und Erzählungen". Das waren Dichtungen einer höheren Tochter, äußerlich gekonnt, aber belanglos. Erst das Entsetzen über die Verfolgung der Juden und die persönliche Not machten sie zur bedeutenden Dichterin.

1946 erschien im Ostberliner Aufbau-Verlag der Gedichtband "In den Wohnungen des Todes". Damit begann ihr eigentliches Werk. Mit dem ersten Gedicht dieses Buches ist das Thema benannt, das Nelly Sachs von nun an nicht mehr loslassen wird. Und es ist auch der Ton angeschlagen, in dem sie fortan schreiben wird, freirhythmisch, an die Psalmen erinnernd:

O die Schornsteine / auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, / als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / durch die Luft - / ... O die Schornsteine! / Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub - / wer erdachte euch und baute Stein auf Stein / den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

Asche und Sand, Rauch und Staub wurden die bestimmenden Worte ihrer Dichtung.

"Sand" erinnert an die Stundenuhr, die das unaufhaltsam verrinnende Leben symbolisiert, sowie an die Wüstenwanderung des Volkes Israel. Zu Asche und Staub sind die ermordeten Juden geworden. Die Geretteten sind mit den Toten durch einen "Abschied im Staub" verbunden. Auch die Geretteten, "aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt", sind nicht unversehrt geblieben. Immer noch essen an ihnen "die Würmer der Angst".

Nelly Sachs konnte 1940 buchstäblich in letzter Minute mit ihrer Mutter nach Schweden ausreisen. Neben deutschen Freunden hatte auch Selma Lagerlöf geholfen. Die gesamte übrige Familie wurde in den Vernichtungslagern ermordet. Von der jüdischen Gemeinde in Stockholm erhielt sie eine Wohnung, die sie bis zu ihrem Tod behielt. Ihr ganzes Werk ist ein einziges großes Klagegedicht. Hass und Rache sind ihr fern. Den Verfolgten gilt ihre Liebe und ihr erinnerndes Gedenken. Aber auch für die "Zuschauenden" und sogar für die Verfolger ist Platz in ihrer Dichtung. Von den Zuschauenden heißt es: "Unter deren Bli-cken getötet wurde. / Wie man auch einen Blick im Rücken fühlt, / so fühlt ihr an euerm Leibe / die Blicke der Toten." Und die Verfolger beschwört sie, sich in die "neue Heiligensprache" einzuüben, deren Alphabet keine Zeichen für die "schwarze Antwort des Hasses" besitze.

Aber die Dichterin blieb bis zuletzt in Sorge, ob die Menschen sich läutern lassen durch das entsetzliche Leid. "Wenn die Propheten einbrächen / Ohr der Menschheit ... / würdest du hören?"

Der Schmetterling, das uralte Zeichen für Wiedergeburt und Wechsel der Daseinsformen, taucht in ihren Gedichten immer wieder auf. "An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt." Die Dichterin glaubte trotz aller furchtbaren Erfahrungen und Erlebnisse an den Fortbestand der Schöpfung. 1966 wurde ihr, gemeinsam mit dem Dichter Samuel Josef Agnon, der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Jürgen Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 19 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.05.2000

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