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Auf zwei Minuten

Mit Abstand sehen

Das neue Jahr kann Anlass sein, nach dem Sinn eigener lebenszeit zu fragen

Bild von Pater Damian Der Schriftsteller Herbert Rosendorfer hat mit seinem Erfolgsroman "Briefe in die chinesische Vergangenheit" eine sehr interessante und ansprechende Art gefunden, unsere heutige Gesellschaft kritisch in den Blick zu nehmen. Ein chinesischer Mandarin aus dem 10. Jahrhundert gelangt mit Hilfe einer Zeitmaschine in das heutige München und sieht sich mit dem völlig anderen Lehen der Menschen konfrontiert. Seine Beobachtungen und Erfahrungen sind erfrischend direkt und kritisch. Aus dem großen geschichtlichen Abstand heraus. Er sieht für ihn sehr befremdende und unverständliche Dinge, Sitten und Bräuche, die wir als selbstverständlich annehmen. Er lernt ein neues Weltbild kennen. Er kommt aus einer Gesellschaft, die relativ stabil ist, in der sich alles nur langsam und geringfügig verändert. Alles läuft in einem langsamen Tempo ab, und das Zeitgefühl der Menschen ist anders als unseres heute.

In einem seiner Briefe an seinen Freund im fernen China schreibt der Mandarin Kaotai aus München: ,,Ich habe das Gefühl, für sie (die Großnasen) verläuft der Lebensweg des Menschengeschlechts in einem schnurstrackigen Weg, und sie sind nur damit beschäftigt, davor zu zittern, wo dieser Weg hinführt...Die Großnasen glauben verbissen daran, dass alles sich ständig ändern muss, und selbst die Venünftigeren sind nicht von der Meinung abzubringen, dass, wenn etwas sich ändert, es auch besser wird. Hat die Welt schon so einen Aberglauben gesehen? Fort-Schritt... sie schreiten fort, sie schreiten fort von allem. Warum? frage ich mich. Wohl nur, weil es ihnen nicht gefällt, bei sich selber zu sein. Und warum gefällt ihnen das nicht? Wohl weil sie sich als widerwärtig empfinden. Aber was für ein Unsinn, von sich fortzuschreiten. Sie ändern ja nur ihre Umgebung, nicht sich selber. Und das scheint mir der Kernpunkt zu sein: die Großnasen sind weder in der Lage noch willens, sich selber zu vervollkommnen, sie experimentieren lieber mit ihrer Welt herum."

Der Beobachter aus dem alten China schätzt durchaus auch die Annehmlichkeiten unserer technischen Zivilisation und er entdeckt die Schönheit unserer klassischen Musik. Aber er fragt hartnäckig: ,,Ob das Leben auf dieser Kugel-Welt überhaupt einen Sinn hat? ...Die Großnasen erforschen alles Mögliche und denken über ungeahnte Dinge nach, und für alles und jedes gibt es staatlich geprüfte Spezialisten. Aber sie hüten sich, über das Detail hinauszugehen Die Großnasen-Welt ist eine Welt des Details."

Der Anfang eines neuen Jahres könnte für uns ein Anlass sein, mit etwas Abstand auf unsere Welt zu blicken und nach dem Sinn von Zeit und eigener Lebenszeit zu fragen.

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 1 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 03.01.2002

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