Die Fremdheit überwinden
Integration von Spätaussiedlern
Russlanddeutsche Spätaussiedler gibt es inzwischen auch im Umkreis vieler katholischer Pfarrgemeinden in Ostdeutschland. Jan Kishl, Referent für Aussiedlersozialarbeit im Caritasverband für das Bistum Magdeburg gibt Tipps, wie Pfarrgemeinden ihnen bei der Intergration in ihre neue Heimat helfen können, und zeigt, wie sie zur Bereicherung des Gemeindelebens beitragen können:
Die religiöse Beheimatung fällt russlanddeutschen Spätaussiedlern in unseren Pfarrgemeinden schwer. Auch wenn sie in der Mehrzahl getauft wurden, verfügen sie über nur geringe kirchliche Erfahrungen und haben keine nennenswerten Grundkenntnisse über ihr Glauben.
Viele ältere Russlanddeutschen sind tief religiös. Jüngere Spätaussiedler aber haben meist keinen Bezug zu Kirche und Religion. Für ihre religiöse Beheimatung sind die Pfarrgemeinden und die Mitarbeiter von Caritas gemeinsam verantwortlich.
Sicherlich verhindern die mangelnden deutschen Sprachkenntnisse eine schnelle Integration. Es hat viele Ursachen, warum Russlanddeutsche ihre Deutschkenntnisse so stark verloren haben. Vordergründig sind sie in ihrer leidvollen Geschichte und in der Politik der früheren Sowjetunion und der jetzigen Einzelstaaten zu suchen.
In Deutschland können Spätaussiedler Vertrautheit und Sicherheit nur gewinnen, wenn die Sprachbarrieren abgebaut werden. Nur dann sind sie in der Lage positive Erfahrungen mit ihren einheimischen Nachbarn machen. Die Pfarrgemeinden haben hier ein breites Betätigungsfeld und können den neuen Mitbürgern eine soziale und geistliche Verwurzelung erleichtern.
Unsere Pfarrgemeinden könnten beispielsweise Spätaussiedlern gewisse Aufgaben und Verantwortung in den Gemeinden übertragen oder einen festen Gesprächskreis bilden, in dem Spätaussiedler in die Gestaltung der Liturgie eingeführt werden (etwa durch Hinweise anhand des Gotteslobes). Russlanddeutsche Bräuche könnten aufgegriffen und in das Gemeindeleben integriert werden. Gemeindemitglieder sollten auf Spätaussiedler aufmerksam gemacht werden. Gemeindearbeit mit Spätaussiedlern wäre denkbar. Russlanddeutsche sind keine isolierte Gruppe, sondern ein Teil der deutschen Gesellschaft und sie sollten am gemeinschaftlichen Leben unserer Gemeinden teilnehmen.
Russlanddeutschen Spätaussiedlern sind Erstkommunion- und Firmkatechese in der uns bekannten Form neu. Das könnte Anlass sein, sich die fremde Art der Katechese vorstellen zu lassen. Spätaussiedler sollten Gelegenheit bekommen, ihre religiösen Formen in ihrer vertrauten Weise zu erleben. Im Fürbittgebet könnte ihre Lebenssituation aufgegriffen werden. Gemeindefeste sollten gemeinsam mit ihnen vorbereitet werden.
Die Teilnahme der Spätaussiedler am Gemeindeleben stößt auf viele Schwierigkeiten. Die ersten Eindrücke, die ersten Erfahrungen mit Einheimischen sind prägend. Die Pfarrgemeinden müssen signalisieren, dass sie für die neuen Mitbürger offen sind. Zu den ersten Gemeindefesten sollten Spätaussiedler persönlich eingeladen werden. Hilfreich wäre es zu überlegen, ob sich neue Spätaussiedler nicht vorstellen könnten. Ein Besuchsdienst, der die neu Angekommenen begrüßt, könnte eingerichtet werden oder ein Begrüßungsschreiben verschickt werden. Dafür sind ehrenamtlicher Helfer unentbehrlich.
Unsere Kirche hilft dem Staat, die Integration der Spätaussiedler in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern. Die Tätigkeit der Caritas mit ihren hauptamtlichen Mitarbeitern ist hier sehr wichtig. Caritasmitarbeiter tragen ebenso die Verantwortung dafür, dass Russlanddeutsche in unserer Kirche ihre Heimat finden, wenn sie dies wünschen. Schließlich sind sie dank ihrer sozialen Beratungs- und Betreuungsarbeit deren erste und oft ihre letzten Ansprechpartner für eine lange Zeit. Caritasmitarbeiter kennen die Not und die Bedürfnisse ihrer Klienten am besten.
Spätaussiedler sollten in der ersten Zeit ihrer Integration in Deutschland gleichermaßen Anspruch haben auf die Betreuungsdienste der Caritas und die Seelsorge unserer Pfarrgemeinden. Wenn sie zu uns kommen, sind verunsichert und orientierungslos. Die Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern und das endlose Warten auf die Ausreiseerlaubnis hat ihnen jedes Vertrauen zu Institutionen genommen. Der Überlebenskampf prägte sie.
In Deutschland angekommen, müssen sie erst vieles aufarbeiten, familiäre Probleme lösen, unzählige Behördengänge absolvieren, Wohnung und Arbeit finden. Die abnehmende Akzeptanz der Gesellschaft ihnen gegenüber verunsichert sie. In der Anfangszeit sind sie auch nicht in der Lage, ihre Gefühle und ihre Gedanken mitzuteilen. Sie grenzen sich ab. Unter solchen Umständen können sie das Interesse an der Kirche schnell verlieren, wenn Gemeinde und Caritas nicht auf sie zugehen.
Auf Dauer kann unsere Kirche Spätaussiedler nur an sich binden, wenn sie sich um sie bemüht, wenn sie eine aktive Aussiedlerarbeit betreibt. Das würde sich langfristig auszahlen. Unser kirchliches Leben könnte durch Russlanddeutsche bereichert werden, die neuen Mitbürger fänden einen schnelleren Eingang in unsere Gesellschaft, und die Pfarrgemeinden bekämen neue Mitglieder. Das Kirchensteueraufkommen würde steigen.
Manche die zu uns kommen, bleiben über Jahre hinweg "Fremde unter uns", obwohl sie gerne in unsere Gesellschaft aufgenommen werden möchten. Das besondere Interesse unserer Kirche liegt deshalb darin, aus Fremden nicht nur Nachbarn, sondern Nächste werden zu lassen. Wir alle tragen die Verantwortung dafür, dass die zu uns kommenden Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nicht gänzlich bei den Sekten landen werden, nur weil wir in unseren Gemeinden nicht auf sie zugegangen sind.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 25.06.2000