Anspruch auf Würde
Woche für das Leben
Dresden (tg) - Untersuchungen am menschlichen Erbgut mit dem Ziel, eine mögliche schwere Krankheit noch vor ihrem Ausbruch festzustellen, sind nach Ansicht des Dresdner Humangenetikers Klaus Hinkel aus ethischer Sicht dann sinnvoll, wenn der Betroffene sein Krankheitsschicksal noch beeinflussen kann. Bei Schilddrüsen- oder Dickdarmkrebs etwa könne, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, eine Therapie helfen, sagte er in einem Vortrag im Dresdner Haus der Kathedrale im Rahmen der "Woche für das Leben" der katholischen und evangelischen Kirche.
Zu einem schwierigen Problem würden solche Untersuchungen jedoch, wenn der bevorstehende Ausbruch einer nicht behebbaren Krankheit wie etwa Veitstanz festgestellt werde, sagte Hinkel. Hier müsse der Arzt vor der Untersuchung über mögliche Konsequenzen aufklären. Ethisch äußerst bedenklich werde es, wenn kommerzielle Interessen mit ins Spiel kämen.
Für eine vorgeburtliche Gen-Untersuchung gebe es aus medizinischer Sicht keine unbedingte Notwendigkeit. Keine werdende Mutter könne dazu gezwungen werden, betonte Hinkel. Ob sie sich dafür entscheide, hänge aber oft von ihrer gesellschaftlichen Umgebung ab. "Es gibt eine zunehmende Konsumentenhaltung, alles machen zu lassen, was möglich ist. Das bedroht die Behinderten in unserer Gesellschaft." Bei der vorgeburtlichen Diagnostik dürfe es keineswegs darum gehen, Behinderte zu erkennen und dann zu eliminieren.
Die ethische Bewertung einer vorgeburtlichen Gen-Analyse hänge von deren Zielstellung ab, pflichtete ihm der Medizinethiker Johannes Baptist Gründel (Freising) bei. Sie könne werdenden Eltern Ängste nehmen, wenn bei der Analyse eine schwere Krankheit des Kindes auszuschließen sei. Insofern könne sie sogar eine die Schwangerschaft erhaltende Wirkung haben. Etwa 95 Prozent der Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass kein Risiko vorliegt. In einigen Fällen könne ein solches positives Resultat eine Mutter, die einen Abbruch der Schwangerschaft erwogen hat, darin bestärken, ihr Kind auszutragen. Grundsätzlich halte er die Gen-Analyse nicht für falsch, jedoch für "ambivalent", sagte Johannes Gründel.
Auf keinen Fall jedoch dürfe das Ziel sein, behindertes Leben zu diagnostizieren, um es dann abzutreiben. Wachsamkeit sei auch angesichts eines zunehmenden gesellschaftlichen Druc- kes nötig. "Immer wieder erleben wir, dass Behinderung als eine Zumutung angesehen wird, die ein Recht zur Abtreibung gibt", sagte er. "Behinderung ist aber ein Hinweis auf die Gebrochenheit des Lebens." Jeder Mensch habe einen Anspruch auf Würde.
"Wir müssen Acht haben , dass behindertes Leben nicht als lebensunwert angesehen wird", mahnte er. Durch die kleiner werdenden finanziellen Ressourcen tauche hin und wieder bereits die gefährliche Frage auf, wie viele Behinderte sich die Gesellschaft leisten könne. Es sei jedoch gefährlich, im Glauben, billiger davonzukommen, die vorgeburtliche Diagnostik zur Früherkennung und Abtreibung behinderter Kinder einzusetzen. "Ein solches Denken muss geächtet werden", so Gründel. "Eine Gesellschaft ohne Behinderte wäre eine inhumane Gesellschaft."
Gründel forderte außerdem einen wirksamen gesetzlichen Schutz vor dem Missbrauch von Analysen des menschlichen Erbgutes. Es müsse gesichert werden, dass nicht Versicherungen oder Arbeitgeber beispielsweise sie für ihre Zwecke nutzen könnten. Sonst könne dies zur Aufspaltung der Gesellschaft in eine Klasse von "gesunden" und eine von Krankheit gefährdeten Menschen führen.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 23.07.2000