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Aus der Region

Sehnsucht nach einem gerechten Leben

Zum Totestag von H.-C. Andersen

Im Sommer 1831 bereiste der Dichter Hans Christian Andersen Deutschland. Er lernte den Harz und das Elbsandsteingebirge kennen. Für den Dänen, in dessen Heimat es keine nennenswerten Berge gab, waren die deutschen Mittelgebirge große Erlebnisse.

In Dresden besuchte Andersen den Schriftsteller und Übersetzer Ludwig Tieck, dessen Märchendichtungen ihm sehr vertraut waren. Obwohl Andersen damals erst wenig veröffentlicht hatte, sagte ihm Tieck "eine glückliche Zukunft als Dichter" voraus. Zum Abschied küsste er ihn auf die Wange und erkannte ihn damit als gleichberechtigt an. In der Heimat war Andersens Buch "Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amagar in den Jahren 1828 und 1829" heftig angegriffen worden. Nun ermahnte ihn Tieck, der damals neben Goethe als größte literarische Autorität Deutschlands galt, den Mut nicht zu verlieren, "wenn nüchterne Kritik Sie ärgern will".

Andersen war sein Leben lang auf Ermutigung und Anerkennung angewiesen. 1805 als Sohn eines Schuhmachers in Odense geboren, litt er ständig an Gefühlen von Minderwertigkeit. Deshalb ließ er sich auch später, als er ein bekannter Dichter war, keine Huldigung entgehen und war für Anerkennung durch gekrönte Häupter besonders dankbar. Hochgestellte Persönlichkeiten sollten ihm bestätigen, dass er ein schöner Schwan und kein hässliches Entlein war.

Das Thema des sozialen Aufstiegs von Künstlern hat ihn schon früh beschäftigt. In dem Buch "Schattenbilder von einer Reise in den Harz, die Sächsische Schweiz etc. etc. im Sommer 1831" steht: "Wir kamen an einem kleinen freundlichen Hause vorbei mit rot gemaltem Holzwerk und mit Weinranken an den Mauern; da saß ein kleiner sonnenverbrannter Knabe mit silberweißem Haar und übte sich auf einer alten Geige; vielleicht wird der Kleine einmal ein großer Virtuose, setzt die Welt durch sein Spiel in Staunen, wird bewundert und geehrt, während ihm ein geheimer Wurm alle grünen Blätter von des Lebens Baum abnagt." Wir werden sofort an den kleinen Kay erinnert, den die Schneekönigin zwar äußerlich reich macht, dessen Herz sie aber erfrieren lässt.

Andersen hat neben vielen Reisebüchern auch Romane ("Nur ein Spielmann" 1837) und Gedichte geschrieben. Weltberühmt und in über 100 Sprachen übersetzt worden ist er aber wegen seiner Märchen. Anfangs hielt er sich an Stoffe aus Volksmärchen ("Das Feuerzeug", 1835). Bald wurde er immer selbstständiger ("Das hässliche junge Entlein", 1843) und entwickelte die Märchenform künstlerisch weiter.

Als er sich mit Tieck traf, standen sich zwei der größten europäischen Märchendichter des 19. Jahrhunderts gegenüber, ohne dass sie es gewusst hätten. Andersens Märchen wurzeln tief in den Vorstellungen des Volkes. Anders hätten sie auch nicht die Herzen alter und junger Leser erobert. In ihnen drückt sich die Sehnsucht nach einem gerechten Leben aus. Das Gute siegt über das Böse; Liebe und Bescheidenheit werden belohnt. Märchen wie "Die wilden Schwäne", "Die kleine Seejungfrau" oder "Der kleine Klaus und der große Klaus" sind zu echten Volksmärchen geworden.

Jürgen Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 31 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 30.07.2000

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