Bischof Wanke zur "Dominus Jesus"
Erfurt
Über acht Millionen Angehörige von Suchtkranken leben in Deutschland. Sie leben überwiegend im Verborgenen. Sie schämen sich ihres suchtkranken Familienmitgliedes, einige fühlen sich irgendwie schuldig und hilflos und von allen verlassen. Viele scheuen den Weg, ihrer Einsamkeit zu entkommen. Vielmehr kümmern sie sich um nicht bezahlte Rechnungen, um den verlorenen Führerschein, um Krankschreibungen. Sie versuchen, so gut es geht, Normalität zu demonstrieren, die Fassade einer intakten Familie aufrechtzuerhalten, den "Betrieb" am Laufen zu halten.
Dabei vernachlässigen sie ihr eigenes Leben. Die eigenen Wünsche und Bedürfnisse kommen zu kurz. Oft leiden Angehörige länger und heftiger als die Suchtkranken - aber meist stumm - an ihrer Situation. Scham ist ein intensives, vernichtendes Gefühl, nur schwer zu ertragen und führt oft zur Resignation.
Und dann das Wechselbad aus Hoffnung und Enttäuschung! Hoffnung, weil er / sie versprochen hat, nun endlich mit dem Trinken aufzuhören. Verzweiflung und Enttäuschung, wenn das dann doch nicht so schnell klappt. Oder auch die Zweifel: Liegt das vielleicht an unserer Erziehung, dass der Sohn / die Tochter Drogen nimmt. Hat er /sie nicht recht, wenn er / sie sagt, dass sie / er nur trinken würde, weil ... Langsam, schleichend, wird der Angehörige selbst krank in einem kranken System.
Angehörige: Das ist die Partnerin eines alkoholkranken Mannes, der zum wiederholten Male in der Klinik ist; das sind die Kinder in dieser Familie; das sind die Eltern und die Geschwister von Drogenabhängigen; das ist die alte Mutter einer alkoholkranken Frau; das sind Millionen von Menschen, die mit Suchtkranken leben.
Auch nach der "Therapie", nach der "Entziehungskur" bleibt die Angst: Wie lange geht es gut? Hält das jetzt? Bleibt er /sie "trocken"? Dazu kommt oft, dass man erst wieder lernen muss, miteinander zu sprechen. Meist ist die Kommunikation in der Familie gestört, sogar fast zum Erliegen gekommen.
Angehörige von Suchtkranken bedürfen der Unterstützung. Sie brauchen Hilfe, Geduld und das richtige Verständnis für ihre Situation. Und sie brauchen Mut. Vor allem aber brauchen sie Menschen, die ihnen zuhören, ohne sie zu bedrängen. Um aus ihrer Isolation herauszukommen, bedürfen sie der geduldigen Begleitung. Bevor es zur Einsicht und zur Erkenntnis kommt, gar zu Verhaltensänderungen, vergeht meist viel Zeit.
Die DS - die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren - hat das Jahr 2000 zum Jahr der Angehörigen von Suchtkranken erklärt. Sie will mit dieser Ak-tion auf die schwierige Lage der Angehörigen aufmerksam mache. Die Caritas-Beratungsstelle für Suchtkranke im Eichsfeldkreis, aber auch andere Einrichtungen, greifen dieses Thema gern auf.
Wir sehen, wie wohltuend, wie befreiend es ist, wenn Angehörige sich Hilfe holen, Veränderungen anstreben, um Handlungsfreiheit und Kompetenz (wieder) zu bekommen.
Ein erster Schritt in diese Richtung könnte zum Beispiel sein, wenn man sich einer Selbsthilfegruppe anschließt oder wenn man mit einem neutralen, kompetenten Fachmann spricht oder wenn man die Schulden, die der Suchtkranke gemacht hat, nicht mehr bezahlt oder wenn man ihn / sie nicht mehr überall entschuldigt.
In einer Woche, am Montag, 25. September, werden in der Caritas-Beratungsstelle für Suchtkranke in Leinefelde, Bonifatiusweg 2, von 19 bis 21 Uhr zwei Angehörige von Suchtkranken, eine Frau, die eine Selbsthilfegruppe leitet, und ein Vater, dessen Kind Drogen konsumiert hat, sowie ein Mitarbeiter der Suchtberatungsstelle am Telefon sein. Unter der Nummer (0 36 05) 50 44 34 oder (0 36 05) 50 42 59 kann man anonym anrufen und mit einem der oben Genannten sprechen. Selbstverständlich kann man sich auch sonst an eine Beratungsstelle wenden. Es wäre wünschenswert, wenn recht viele dieses Angebot nutzen würden. Es könnte ein erster Schritt sein ...
W. Vockrodt, Caritas-Suchtberatungsstelle Leinefelde
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.09.2000