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Aus der Region

Erwartungen und Illusionen

Zum 3. Oktober

Eines wussten wir vor zehn Jahren: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Und wir schauten auf den Westen, denn dort schien vorhanden zu sein, was uns fehlte: die Erfahrung einer funktionierenden Demokratie, die vielen Regelungen zur Bewältigung verwaltungstechnischer Probleme, die Gesetze, das Geld, das Wohlwollen gegenüber kirchlichen Aktivitäten.

Wie stolz wir auch immer auf das waren, was wir selbst im Herbst 1989 auf die Beine gestellt hatten - Frühjahr und Sommer 1990 zeigten überdeutlich die Grenzen, die in einer Haltung der Ablehnung und der Verweigerung liegen. Uns fehlten tragfähige Konzepte. Die wenigen konstruktiv denkenden Gruppen und die Kirchen hatten keine Programme vorbereitet. Das war Folge totaler Überwachung durch die Stasi. So sind wir unsicher und suchend durch den Systemwandel getappt. Und fast immer, wenn wir später riefen, dass hier und da etwas aus unserer Erfahrung und Geschichte erhalten werden müsse, weil es gut und bewährt sei, kam ein ganz Schlauer und machte uns klar, dass ein prinzipieller Widerspruch zum neuen System bestehe und kein Platz dafür sei. Dies erlebten wir mit den Ambulanzen der Krankenhäuser, die wir mühsam in der DDR für die kirchlichen Häuser erkämpft hatten, das gilt für den grünen Pfeil, das gilt für den Einsatz von behinderten Menschen in Betrieben und für die Rede über die Kirche, über die Art und Weise, wie sehr in wirtschaftlichen Entscheidungen der einzelne Mensch gesehen wird. Und heute - nach zehn Jahren - werden solche Dinge oft als völlig neue, aus den USA oder anderswoher kommend, unseren Standort und unsere Verkrustung endlich auflösende Ideen gepriesen.

Ich selbst bin seit neun Jahren als Präsident des Deutschen Caritasverbandes hin- und hergerissen von solchen und anderen Erfahrungen. Ich habe sehr viele gute Erfahrungen gemacht, habe Möglichkeiten für Caritas und Kirche, für persönliches Engagement erlebt, die in der DDR unmöglich gewesen wären, wo Initiative nur galt, wenn sie ein Bestandteil der Planung war.

All diese Erfahrungen zeigen in ihrer Gegensätzlichkeit überdeutlich, dass die Erwartungen oft Illusionen waren, weil wir nicht erkannten, dass die Welt auf dem Weg ist und dass weder der Kommunismus das Himmelreich auf Erden bringen konnte, noch die soziale Marktwirtschaft ein System sein kann, das problemlos funktioniert.

Gesellschaften werden von Menschen gestaltet. Als Christ glaube ich an Gottes Nähe und Hilfe. Ich habe in den vergangenen zehn Jahren viele Länder voller Not erlebt und Menschen, die unter furchtbaren Bedingungen oder in bitterer Armut den Glauben an Gott und an die Zukunft nicht verloren haben. Noch vor einigen Tagen habe ich in Bosnien mit solchen Menschen gesprochen.

Realistischer und nüchterner Optimismus, Einbringen der eigenen Kraft für Veränderungen, Zivilcourage, Gottvertrauen und solidarischer Einsatz füreinander - ich sehe dort für uns alle die einzigen und einzig sinnvollen Ziele. Dann zerstieben Illusionen und erfüllen sich Schritt für Schritt Erwartungen.

Hellmut Puschmann, Präsident des Deutschen Caritasverbandes

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 40 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.10.2000

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