Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!
Bistum Dresden-Meißen

"Übermensch" kein Ersatz für "toten Gott"

Kathedralforum Dresden

Dresden (tg) - Kaum ein anderer Satz des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat die Gemüter bis heute so sehr bewegt wie jener Ausruf des "tollen Menschen" im 125. Stück der "Fröhlichen Wissenschaft" aus dem Jahr 1882: "Gott ist tot!" Die Frage, warum dieser Satz die Menschen bis heute beschäftigt, beantwortet der Innsbrucker Philosophieprofessor Wolfgang Röd mit der Fähigkeit Nietzsches, weit über seine Zeit hinaus zu schauen. Die Entwicklung zu Materialismus, Positivismus und Naturalismus, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eben erst andeutete, habe der Philosoph bereits geahnt. Nietzsche als scharfer und sprachmächtiger Diagnostiker einer Entwicklung, die bis heute anhält. Als solcher verdiene er auch im 100. Jahr nach seinem Tod noch Aufmerksamkeit. Denn, so meinte Röd in einem Vortrag beim kürzlich erst gegründeten Kathedralforum in Dresden: "Auch unsere Zeit ist vom Nihilismus bestimmt."

Eine "taugliche Therapie" freilich für diese Erscheinung habe Nietzsche nicht bieten können. Auch nicht mit seinem "Übermenschen". Der nimmt bei ihm gewissermaßen die Stelle der Gottesidee ein, die sich für ihn erledigt hat. Aus einem grundsätzlich sinnlosen Dasein heraus könne sich der nunmehr vom Gottesglauben entlastete Mensch aus eigener Kraft eigene Werte schaffen. So auch die gottähnliche, jedoch ganz und gar irdische Gestalt des "Übermenschen". Eine neue Instanz, die dem Leben des Einzelnen neuen Sinn verleihen soll. Doch gerade weil diese Schöpfung lediglich ein Akt des Willens, nicht aber der Vernunft sei, die Nietzsche gering schätzte, musste sein Versuch scheitern, ein "neues Sinnfundament" zu schaffen. Den "Übermenschen" hält Röd jedenfalls für kein überzeugendes Ziel. Denn: "Sinnfindung unabhängig von der Vernunft ist nicht möglich."

Röd hält die Schaffung jenes "Übermenschen" für eine Art Trotz-Reaktion Nietzsches. Immerhin hatte der Pfarrerssohn aus Röcken den Tod Gottes, das Sinnbild für den schwindenden Gottesglauben, durchaus mit einiger Beklemmung registriert. Musste der Mensch doch nun ganz allein über Lüge und Wahrheit entscheiden, wovor ihm bange wird. Nietzsche sah als negatives Resultat dieses Prozesses die europäische Moral zusammenbrechen. "Dieses Heraufkommen des Nihilismus", so Röd, "wollte er diagnostizieren, um ihn zu überwinden."

Gleichzeitig gewinnt Nietzsche diesem "Tod" Gottes auch eine positive Seite ab. Jene, die er mit Bildern wie "Morgenröte" und "freier Horizont" beschrieb - "vielleicht gab es nie ein so offenes Meer", heißt es 1887 im fünften Buch der "Fröhlichen Wissenschaft". Dem Gottesglaube indes sprach er jede Objektivität ab. Es seien rein subjektive Motive, aus denen er entstand. Seine Argumente indes, dass Glaube bedeute, sein Heil nur im Jenseits zu suchen und darüber das Diesseits abzuwerten, hält Röd heute für nicht mehr stichhaltig: "Wenn ich die Natur als göttliche Schöpfung betrachte, werte ich sie doch als Diesseitiges auf."

Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Nietzsches Philosophie mit dem Nationalsozialismus, die in der lebhaften, aber sachlichen Diskussion auftauchte, plädierte Röd für eine differenzierte Betrachtung: Elemente, wie etwa die Verherrlichung der Stärke, auf die sich Hitler berufen konnte, fänden sich ebenso wie die strikte Ablehnung des Nationalismus und Antisemitismus.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 41 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.10.2000

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps