Auf der Suche nach neuen Sichtweisen der Medizin
Zwochau
Zwochau (dw) - Der technische Fortschritt in der Medizin schreitet in der westlichen Zivilisation zusehends voran, die geistigen Fähigkeiten, Krankheit, Leid, Hinfälligkeit und Tod zu begegnen, scheinen dagegen eher abzunehmen. Bei einer Tagung für Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen, zu der die Fokolarbewegung am zweiten Oktoberwochenende nach Zwochau eingeladen hatte, tauschten sich Ärzte, Krankenschwestern, Therapeuten und Laborkräfte aus unterschiedlichen Fachgebieten darüber aus, wie das weit verbreitete Schlagwort des "ganzheitlichen Ansatzes" in der Medizin mit Leben erfüllt werden könnte.
Der Kemptener Internist und Psychotherapeut Erich Farkas erinnerte daran, dass Krankheit den Menschen nie nur körperlich betrifft, sondern auch in seiner sozialen, psychischen, geistigen und spirituellen Dimension. Die Offenheit gegenüber der spirituellen Dimension seines Patienten verlange von Heilenden innere Freiheit, Toleranz und ein Stück Selbstüberwindung. "Wie kommen Sie mit Ihrer Situation zurecht?", sei eine mögliche Frage, mit der er als Arzt Gesprächsbereitschaft signalisieren könne. Er selbst erlebe beispielsweise - nicht immer, aber oftmals - , dass bei Menschen, die sich in einer Krise befinden, derartige Gesprächsangebote einen Prozess in Gang setzen, der ihre eigenen spirituellen Kräfte aktiviert.
Die Gerontologin Flavia Caretta aus Rom, Autorin eines Buches über das Verständnis von Gesundheit und Krankheit in verschiedenen Weltreligionen, plädierte dafür, Gesundheit nicht nur - wie sonst oft üblich - als Abwesenheit von Krankheit zu definieren. Gesundheit bedeute, mit Krankheiten und Begrenztheiten das Leben gestalten zu lernen. Eine solche Sicht bedeute für das medizinische Personal, sich selbst der Frage zu stellen: "Was bedeutet Leid und Begrenztheit für mich?" Es ermögliche, dem Patienten gewissermaßen "auf gleicher Augenhöhe" zu begegnen. Ärzte und Pfleger könnten sich so nicht nur als Gebende, sondern gleichzeitig immer auch als Empfangende verstehen.
"In der Beziehung mit Kranken wird mir selbst oft klarer, was in meinem Leben gerade den ersten Platz einnimmt", sagte Dr. Anita Goedecke, Anästhesistin am Leipziger Elisabeth-Krankenhaus. Sie unterstrich die positiven Auswirkungen gelungener Teamarbeit auf den Heilungsprozess. Ein Team, in dem jeder - auch die Reinigungskraft - als Mensch angenommen werde, könne eine kreative Atmosphäre des Vertrauens schaffen, die Kranken erlaubte, das Leben mit ihrer Krankheit zu gestalten, ihr Sinn zu geben und Heilungskräfte zu aktivieren. Trotz guter Vorsätze ist es nicht immer ganz einfach, eine solche Sichtweise in die Tat umzusetzen, räumte sie ein. Erst kürzlich sei es beispielsweise in ihrem eigenen Arbeitsteam passiert, dass am Ende der Visite auf der Intensivstation die Patientin an ihrem Ärmel zupfte und fragte: "Ging es jetzt um mich?"
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 15.10.2000