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Aus der Region

Die jüdische Professorin Eveline Goodman-Thau

Im Interview:

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Frauen bei den derzeitigen Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern?
Auf der Straße sieht man gegenwärtig nur Männer und männliche Kinder. Die Frauen sind unsichtbar. Seit vielen Jahren gibt es hier eine Bewegung der Frauen für den Frieden, doch jetzt ist sie etwas in den Hintergrund getreten. Frauen müssten sich aber gerade jetzt zu Wort melden und sagen: "Wir wollen nicht, dass unsere Kinder auf die Straße gehen." Es geht nicht, dass auf Kinder geschossen wird. Wenn schon Krieg, dann einen ehrlichen Krieg. Ich bin aber - wie übrigens die meisten Israelis - vehement für den Frieden. Die gegenwärtige Lage macht mir große Sorgen. Ich frage mich: Verstehen wir wirklich, was das Wort Frieden bedeutet und was das Wort Krieg bedeutet und dass man Verantwortung immer nur für den Frieden übernehmen kann, niemals aber für einen Krieg?
Wie bewerten Sie die Serie von Anschlägen auf Synagogen in Deutschland im Blick auf den Versöhnungsprozess zwischen Juden und der übrigen Bevölkerung?
Ich sehe die Anschläge - nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern Europas - als Rückschlag. Die Juden der zweiten Generation, die nicht so verquickt sind mit dem, was hier zu NS-Zeiten passiert ist, insbesondere die russischen Einwanderer, wollen hier leben. Ich fand die Frage Paul Spiegels nachvollziehbar, ob es für Juden sinnvoll ist, hier zu leben. Wenn man die wirkliche Bedeutung von Globalisierung versteht, muss man so fragen. Wichtig sind immer klare, verurteilende Worte der Regierungen. Wo diese ausbleiben - wie in Frankreich - entstehen Grauzonen, in denen radikale Kräfte ihren Nährboden finden. Die entscheidende Frage ist die, ob sich die Nachkriegsgeneration der Veranwortung für die Geschichte der Väter und Großväter bewusst ist. Im Fall von Jörg Haider in Österreich beispielsweise ist dieses die entscheidende Frage, und nicht, ob er ein Antisemit ist oder nicht.
Sie sind Gründerin des Seminars für Jüdische Studien an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Welche Bedeutung erfüllt dieses Seminar?
Es ging mir nicht allein darum, einen akademischen Nachholbedarf im Osten Deutschlands zu schließen, sondern ich fand es auch wichtig, gemeinsam mit jungen Menschen die kulturprägende Kraft des Judentums in Deutschland wieder zu entdecken. Was bedeutet es beispielsweise heute, dass 1933 die jüdischen Hochschullehrer einfach von heute auf morgen entlassen wurden? Von den Studenten ist dieses Anliegen, die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft mit in den Blick zu nehmen, sehr gut aufgenommen worden. Wie die Arbeit seit meinem Weggang vor zwei Jahren dort weitergeht, möchte ich nicht beurteilen. Das Anliegen, Geisteswissenschaften in einen größeren Kontext zu stellen, vertrete ich nach wie vor. Als ich nach Sachsen-Anhalt kam, habe ich gespürt, dass das "Gewebe" dort zerrissen ist, so gestört, dass radikale Einflüsse sofort eindringen können. Die Politik, die Hochschulen die Wirtschaft und die Kulturschaffenden sind gefragt, dieses Gewebe gemeinsam zu reparieren.
Was erwarten Sie sich künftig vom Dialog zwischen Juden und Christen?
Der Dialog ist an einen Punkt gekommen, wo er politisch umgesetzt werden muss. Theologische Fragen über das Messiasverständnis, Sündenvergebung oder sogar das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum sind im Grunde uninteressant geworden. Die Welt brennt, und deshalb muss unser fruchtbarer Dialog in politische Kultur umgesetzt werden.

Interview: D. Wanzek

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 29.10.2000

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