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Aus der Region

Selig, die ihr jetzt hungert...

Im Gespäch (1)

"Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.

Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen ..." (Lk 6,20b-21)

Auslegung Claus-Peter März: Die Seligpreisungen sind mir von Kindheit an vertraut. Oft habe ich sie ausgelegt, viele Male über sie gepredigt. Doch dieses Mal lese ich sie anders. Denn irgendwie schaut mir Heinz Stade über die Schulter, und ich frage mich beim Lesen immer wieder, wie er wohl den Text versteht. Es ist, wie wenn ich einen Besucher durch meine Heimatstadt führe: Plötzlich sehe ich alles mit den berühmten "anderen Augen", und auch die Seligpreisungen klingen heute nicht ganz so vertraut wie sonst. Ich frage mich, ob diese Sätze, die den Armen so einfach den Himmel versprechen, nicht doch auf Vertröstung aus sind? Vielleicht aber rufen sie dazu auf, keinen Frieden mit einer Welt zu schließen, in der die Kleinen klein zu bleiben haben und die Armen das Mahl der Reichen nicht stören dürfen?

Die ersten Hörer, galiläische Bauern und Fischer vom See Genezareth, haben Jesus ohne Probleme verstanden. Sie wussten freilich auch, was es heißt, zu den Armen zu gehören. Sie wussten, was es bedeutet, niedergehalten, ausgeplündert und bedroht zu werden. Sie wussten, dass es in dieser Welt Hohe und Niedrige, Mächtige und Ohnmächtige gibt, und dass keiner diesem Gefüge entkommen kann. Viele hatten vor den Verhältnissen resigniert und glaubten an keine Veränderung mehr. Andere griffen zur Waffe und setzten ihr eigenes Recht durch - auch wenn es mit neuem Unrecht erkauft und mit dem Blut der Anderen bezahlt wurde.

Dies alles hat Jesus vor Augen. Er weiß, wie die Welt ist, aber er akzeptiert nicht, dass sie so bleiben muss. Gerade die Seligpreisungen wenden sich gegen die ungleichen Verhältnisse und markieren den Anfang eines neuen Weges: Sie stellen nicht mehr die Mächtigen in der Mitte, sondern die Hungernden und die Zerbrochenen. Ein neuer Ton mischt in das Reden der Menschen. Und wo man so redet, ist die Welt nicht mehr die gleiche wie zuvor.

Doch solche Worte dürfen nicht nur Worte bleiben, sie müssen Wirklichkeit werden. Wie soll das geschehen? Jesus entwickelt kein revolutionäres Programm: Er weist auf GOTT. Als kritische Instanz macht er ihn geltend - gegen eine Gesellschaft, in der die Besitzenden verteidigen, was sie haben, und die Armen sich selbst überlassen, bringt er ihn ins Spiel. Denn für Jesus ist die Welt, die in Arme und Reiche zerfällt, nicht mehr die gute Schöpfung, die aus den Händen Gottes kommt, sondern ein Zerrbild, das keinen Bestand haben wird. Und jeder, der den Namen Gottes anruft und sich an Jesus orientiert, darf mit dieser Welt, wie sie ist, nicht stillschweigend einen verlogenen Frieden schließen. Denn es geht um jenen Aufbruch, den schon der Prophet Jesaja beschrieben hat und der in den Seligpreisungen wieder aufklingt: "Der ... Herr hat mich ausgesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen Entlassung verkünde und den Gefesselten Befreiung, dass ich ein Erlassjahr des Herrn ausrufe... und alle Trauernden tröste ..." (Jes 61,1-3).

Es sind Menschen, die darauf aus sind, dass die Verhältnisse bleiben, wie sie sind. Jesu Botschaft bedeutet zunächst einmal: Sie werden sich dennoch wandeln - von Gott her. Das bedeutet für ihn freilich nicht einfach, dass Gott irgendwann als "himmlische Ordnungsmacht" über die Menschheit kommen und alles verändern wird. Jesus hat vielmehr die Gegenwart im Blick: Heute schon sollen sich Menschen diesem Wandel anvertrauen. Heute schon sollen sie Gottes Zusage beim Wort nehmen, die eigenen Ängste überwinden und auf neuen Wegen gehen. Denn man kann heute schon Leben teilen und so der Vision einer neuen Menschheit Leben verleihen - wenn man nur das Wagnis des Vertrauens eingeht.

Ich frage mich, wie die Seligpreisungen ausgefallen wären, wenn Jesus nicht zu Bauern des galiläischen Berglandes und zu Fischern des Sees Genezareth, sondern zu uns geredet hätte. Manche Sätze meine ich deutlich zu hören: "Auch wenn ihr nicht zu den wirklich Armen gehört, selig seid ihr, wenn ihr die Armen nicht abwehrt aus Angst, sie könnten euer Auskommen schmälern..." "Selig seid ihr, wenn ihr die Armutsgrenzen in der Welt nicht als selbstverständlich anseht und nicht über dem Hunger ganzer Völker ruhig euer Brot aufschneidet ..." "Selig seid ihr, wenn ihr begreift, dass ihr nicht besitzt, um immer mehr zu haben, sondern um Not zu lindern und um zu teilen ..."

Auch heute geht es um eine Welt nach dem Maßbild Gottes - und es geht um jenes Vertrauen, mit dem gerade wir Besitzenden uns schwer tun: Loszulassen, nicht alles, was erreichbar ist, festzuhalten - zu teilen. Doch wo das geschieht, verändert sich die Welt.

Antwortende Auslegung von Heinz Stade: Von den Seligpreisungen habe ich in meiner Kindheit und Jugend nichts gewusst. Wiewohl Gott und der mögliche Glaube an ihn, in ein paar wenigen Religionsstunden wachsen sollten, enttäuschte der Knabe (Jahrgang 1945) die Katechetin (obgleich selbige dafür nicht ursächlich war). Gott kam auch in unserer Familie kaum vor. Immer dann allerdings, wenn die in blühender Fraulichkeit schon zur Kriegswitwe gewordene Mutter den als verschollen gemeldeten Ehemann zurücksehnte, war "der im Himmel" plötzlich präsent: "Lass ein Wunder geschehen, lieber Gott." Es geschah - natürlich - nicht. Und die Zweifel daran, dass es an eine überirdische Macht zu glauben lohne, wurden nicht weniger.

Jahrzehnte später, die berufsbedingte Begegnung mit unzähligen Menschen und mehr noch das lieb gewonnene Ereignis Literatur hatten eine gewisse Neugier aufgebaut, folgte, was vielleicht die Empfindung eines "persönlichen Urknalls" genannt werden darf. Eingeladen von einer Institution, die sich politischer Bildung von Lehrern, Journalisten u.a. "Multiplikatoren" verpflichtet fühlt, durchstreifte ich zwei Wochen lang das Land Israel. Die kriegsbereite Wüste und die Lebens-Wasser sichernden Golan-Höhen, das scheinbar seelenlos hektische Tel Aviv und die Einsamkeit des Hauses von Ben Gorion, die Klagemauer und der Friedhof von "Schindlers Liste", die Begegnung mit hochrangigen Politikern in der Knesset und der niederdrückende Gang durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem; beeindruckend, aufrüttelnd und nachdenklich machend. Dass in diesem fortwährenden Auf und Ab der Gefühle noch eine Steigerung möglich sein sollte, schien mir nicht vorhersehbar. Der Berg und der See vermochten es. Es war spät geworden für uns auf der Wanderung zu diesen Ort. Ein Sonnenuntergang - reif für Hollywood - verlieh der Szene alles auf einmal: Erhabenes und Gespenstisches, Wärmendes und Entfremdendes, weltläufig Großes und alltäglich Banales. Über allem aber, man weiß ja um die eigentlich pausenlose Gesprächigkeit von Lehrern und Journalisten beispielsweise, über allem aber breitete sich geradezu schlagartig "hörbare Stille" aus. Hier also war geschehen, wovon das Buch der Bücher erzählt. Noch am späten Abend lasen wir, am See sitzend, daraus wahllos, aber jeder einen Abschnitt, nicht laut, aber für jeden gut hörbar, vor. Später, wieder in gefühlsfreieren und berechenbareren Heimatgefilden, holte ich mir dennoch keinen Berechtigungsschein zur Taufe, noch ein anderes Papier, das dauernde Zugehörigkeit zur Kirche bescheinigt (wiewohl ich mich der Nachwende-obligaten Kirchensteuer nicht entzogen habe, sondern diese als eine Art Denkmal-Mark gern gebe). Aber ich hole mir seither zur Vergewisserung der eigenen Denkrichtung immer mal auch jene "Urknall"-Szene und deren geistigen Auslöser in Erinnerung. Also auch die Seligpreisungen. Wie viel wird in so wenigen Sätzen gesagt! Aber, mein Dialog-Partner Claus-Peter März wird es nicht anders erwarten, aber wie viele Fragen dazu bleiben beim Unkundigen und Ungeübten unbeantwortet, laufen ins nicht Fassbare, versickern in resignierender Abkehr? Gerade in diesen Tagen. Da bringt das serbische Volk gewissermaßen das letzte Stück der Berliner Mauer zu Fall (Freut euch, ihr Armen?) und dort, ausgerechnet dort wo die Seligpreisungen in die Welt gesetzt, verjagen unselige Falken die Besseres verheißenden Tauben (Freut euch, die ihr jetzt weint! Bald werdet ihr lachen?). Gerade in diesen Tagen, wo jüdischen Gotteshäusern hierzulande geschieht, was 1945 dem Schwur "nie wieder" anempfohlen wurde (Ihr werdet mit Gott leben in seiner neuen Welt?). Aber natürlich, ja, ja ich weiß schon: Gerade auch in diesen Tagen meldet sich zu Wort, wer schon jetzt bereit ist zu teilen die immer weniger vorhandene Arbeit beispielsweise oder abzugeben vom immer noch reichlich gedeckten Tisch. Doch: Haben jene, die das tun, je von den Seligpreisungen gehört? Folgen sie dem Aufmerksamkeit erheischenden gesellschaftsfähigen Modespruch "tue Gutes und rede darüber"? Diktiert eine Angst (Aber weh euch, ihr Reichen!), vor wem und wovor auch immer, die nicht unkalkulierte Hinwendung zum armen Menschen? Ich merke schon, wie wenig auch derlei Fragen geeignet sind, "die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen." Sie machen mich nicht frei von der einfachen, möglicherweise alles klärenden Frage an mich selbst und mein Handeln. Die Antwort, geprägt von Worten wie Anfangen und Vertrauen, fällt schwer.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 29.10.2000

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