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Eine "Strategie der Entfeindung"

Im Gespäch (2)

Aber euch, die ihr hört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch fluchen; betet für die, die euch beleidigen!

Dem, der dich auf die Backe schlägt, biete auch die andere dar; und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch das Untergewand nicht! Gib jedem, der dich bittet; und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso!

(Lk 6,27-31)

Auslegung Claus-Peter März:

Diplomatie und Zurückhaltung sind der Bergpredigt fremd. Die wuchtigen und gedrängten Forderungen vermitteln vielmehr den Eindruck einer fast beängs-tigenden Entschlossenheit. Wer nach dem visionären Beginn glaubte, nun würden sanfte Bilder einer erträumten Zukunft vor dem Hörer ausgebreitet, der sieht sich enttäuscht. Jesus will nicht in leuchtenden Farben ausmalen, was morgen besser kommen könnte oder sollte. Ihm geht es vielmehr um das, was heute zu tun ist, damit uns dieses Morgen nicht entgleitet. Er stellt nicht einen Katalog von nützlichen Forderungen auf, mit denen sich jeder, so gut er es halt vermag, auf den Weg machen sollte. Er macht vielmehr einen Totalanspruch geltend. Und der lässt sich mit einem einzigen Begriff auf den Punkt bringen: "LIEBE". Um aber bei diesem schon damals vieldeutigen Begriff keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, bringt er mit dem ersten Satz das Ausmaß dieser "Liebe" ins Spiel: "Euch, meinen Zuhörern sage ich: Liebet eure Feinde...!" Dieser Satz lässt weder Raum für Verharmlosungen noch für die Auswahl des Zuträglichen. Er fordert vielmehr Miteinander als einzig zukunftsfähiges Grundverhalten unter den Menschen. Er spricht von "Liebe", weil es um ein Miteinander geht, das sich die Grenzziehungen versagt und nicht nur die zur Gemeinschaft zulässt, die man von vornherein dafür ausgewählt und zugelassen hat.

Ich gestehe, dass mich dieser Satz, wenn immer ich ihn nicht als den vertrauten Bibeltext aufnehme, sondern neu und gewissermaßen mit "fremden Augen" zu lesen versuche, fast erschlägt. Was wird da eigentlich verlangt? ...Während ich diese Sätze schreibe, berichten die Agenturen von der Eskalation der Gewalt in Ramallah, im Gazastreifen und an weiteren Orten im Nahen Osten. Schlimme Bilder führen vor Augen, wie die tastenden Versuche hin zu einem neuen Miteinander von Palästinensern und Israelis in der sich immer mehr aufbauenden Spirale der Gewalt zerbrechen ... "Liebet eure Feinde...?" Was trägt der Satz noch aus angesichts dieser Geschehnisse? Doch wohin kommen wir, wenn wir ihn außer Kraft setzen? Die nächsten Sätze sind konkreter, wirken aber auf den ers-ten Blick noch abgehobener: "Dem, der dich auf die Wange schlägt, dem halt die andre hin, und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der das Deine wegnimmt, fordere es nicht zurück ..." In diesen Sätzen kann man die Verhältnisse im Palästina des ersten Jahrhunderts mit Händen greifen: Die politische Gewalt, die von allen Seiten geschundenen "kleinen Leute", der allem Recht enthobene Zugriff der römischen Soldateska. Was tut der "Kleine", wenn er in die Hand marodierender Aufständiger kommt, wenn sie ihn misshandeln, ihm alles, selbst die Kleider abnehmen? Was tut der wehrlose galiläische Bergbauer, wenn das Militär Gespanndienste fordert und ihm damit empfindliche Einbußen ins Haus stehen? Was ist zu tun angesichts der asymetrischen Verhältnisse, da die Starken die Kleinen niederdrücken? Reicht es aus, die Rachegelüste vorerst zurückzustellen, um dann, wenn man selber einmal der Stärkere ist, zurückzuzahlen was man erlitten hat - und mehr als das? ... Löst es auch nur eines der vielen Probleme, wenn alle nur auf die Gelegenheit warten, um zurückzuschlagen? Ist es zukunftsfähig, wenn man einander immer neu vorhält, was man einander schuldig ist? Wenn man immer nur zurückholen will, was einem entwendet worden ist, koste es, was es wolle und bezahle dafür, wen immer es trifft?

Wieder stehen mir die Bilder vor Augen, die die Nachrichten gestern und heute brachten: Wenn ihr schlagt, schlagen wir auch, und wenn ihr schießt, schießen wir auch ... und weil die geschossen haben, dürfen wir, ja müssen wir auch schießen ... und so schaukelt sich die Gewalt nach oben, bis keiner mehr weiß, weshalb was geschieht und wozu es nutzen soll. Nur noch das Gegeneinander zählt. Und da sind auch noch die, die schon lange auf diese Gelegenheit warten, um statt der kleinen Schritte zu einem Ausgleich doch noch irgendeine einseitige "Endlösung" zu erreichen - sie kennen die Spielregeln und wissen, wie man aus Abneigung Hass und aus Hass Krieg macht, sie setzen auf diese Spirale der Gewalt und das Verlangen der Menschen, jeden Schlag mit zwei Schlägen zu vergelten ...

Es ist wichtig, dass wir die Sätze Jesu richtig verstehen: Es sagt dem, der geschlagen wird, nicht: Lass dich schlagen, beug dich und schweige. Nein, nicht hinnehmen soll er, sondern etwas dagegen setzen - aber etwas, das geeignet ist, den Kreislauf der Gewalt ohne Gewalt zu durchbrechen. Das meint: Wenn dir einer, indem er dich schlägt, sagt: Du bist mein Feind! Dann wehre dich gegen diese Bestimmung - durch Wehrlosigkeit. Setze ein unerwartetes paradoxes Zeichen, das ihm sagt: Niemals wirst du mein Feind sein ...

Ist es wirklich so weltfremd, wenn Jesus eine Unterbrechung der sich immer weiter nach oben treibenden Gewalt fordert? Ist es wirklich Phantasterei, wenn er der Gewalt die schrankenlose Verständigung, die er "Liebe" nennt, entgegensetzen will? Wenn er den "Ritualen der Feinschaft" eine "Strategie der Entfeindung" entgegensetzen möchte?

Wenn ich mir die Bilder des heutigen Tages anschaue - bleibt uns denn, wenn wir "zukunftsfähig" sein wollen, überhaupt ein anderer Weg, als dieses "Liebet eure Feinde!" hoch zu halten, auch wenn wir nicht einmal im persönlichen Bereich über Ansätze hinauskommen? Es wäre schon ein Anfang, wenn wir uns zumindest auf den letzten Satz verständigen könnten: "Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so sollt auch ihr ihnen ebenso tun."

Auslegung Heinz Stade:

Um ganz ehrlich zu sein: Die hier zur Debatte stehende Passage aus der Bergpredigt war dazu geeignet, mir als Kind und auch noch als Jugendlichen die Bibel (was auch immer davon ich damals wirklich wusste) als Buch für irgendwie komische Leute einzuordnen. Wie kann man denn, so fragte ich nach der nicht leicht zu ertragenden Rauferei auf dem Schulhof oder der noch etwas schärferen Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Motorradbanden (harmlos, wie sie damals waren), wie kann man denn dann erwarten: "... dem, der dich auf die Backe schlägt, biete auch die andere dar" ?

Etliche Jahre später bringt eine Freundin etwas anderes ins Spiel des Lebens: "Gemein sein durch Freundlichkeit", lautet ihre Devise für den Umgang mit mehr oder weniger argen Feinden. Eine nicht weniger verblüffende, scheinbar welt- und lebensfremde Haltung wie jene oben zitierte, nur geschmeidiger formuliert. Das Verblüffende daran ist, dass es bei ihr funktioniert.

Dann das Erlebnis Mitte der 80er Jahre in der realsozialistischen DDR. Ein guter Freund, nennen wir ihn hier Peter, wurde an seinem Arbeitsplatz in der Redaktion einer Tageszeitung zum Partei-, Klassen- und Staatsfeind. Der Anlass für das Rausholen der damals nahezu schlimmsten Keule war damals so ernst wie er heute lachhaft ist. In die Spalten der Tageszeitung war ein Mitmensch geraten, von dem sich erst nach der Veröffentlichung herausstellte, dass er einen "Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR" gestellt hatte. (Im entbürokratisierten Klartext für Spätgeborene: Der Mann wollte in die damalige Bundesrepublik Deutschland übersiedeln.) Und so einer gelangt in die linientreue Parteipresse? Peter, darüber zunächst selbst ein wenig erschrocken und in den diversen Aussprachen zu allerlei Zugeständnissen bereit, merkte erst spät (zu spät), dass er das längst fällige Bauernopfer in einer Inszenierung war, die gewisse labile Redaktionskreise wieder auf Vordermann bringen sollte. Das Kesseltreiben hatte begonnen und reichlich Trittbrettfahrer gefunden. Die einen hatten ihren, er seine Feinde nicht nur gefunden, sondern sie saßen / standen sich Auge in Auge gegenüber. Das bis dahin gelaufene Miteinander (nicht in jedem Falle war es "Liebe" zu nennen) war vergessen, die beruflichen Wege verliefen fortan getrennt, der von Peter führte anfangs bis an den Rand der Exis-tenz. Liebet eure Feinde? Freund Peter ist durchaus ein zynischer und sarkastischer Mitmensch. Die Vorstellung jedoch, ihn zu ermuntern, dass er seinen Feinden am besten die Stirn zeige, wenn er selbige zur nochmaligen Gehirnwäsche hinhalte, das hätte ihn vermutlich ebenso aufbrausen lassen wie die Krokodilstränen einiger seiner Freunde und Kollegen. Nein, so ein "Blödmann" zu sein, kam ihm auch nicht andeutungsweise in den Sinn. Er tat, was ihm als Unterlegenen das Vernünftigste erschien und - was die anderen von ihm erwarteten. Er ging seinen Feinden aus dem Weg, brach Verbindungen zu gewesenen Freunden ab, schrieb klagende Briefe und suchte Arbeit. Ende 1989 allerdings, als seine Feinde plötzlich wieder seine Kollegen und Freunde sein wollten, tat er nicht, was die anderen von ihm erwarteten. Statt mit seiner gebrochenen Biografie zu wuchern und die gewiss aufgestauten Rachegelüste auszuleben, kam nur Bedauern in ihm auf. Und die Gewissheit, die von der Geschichte über Nacht verlassenen einstigen Feinde werden ohne weiteres fremdes Zutun sattsam Stoff zum Zermürben haben. "Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso!" Die Hand stockt beim Tippen dieses Satzes. Hat Peter christlich gehandelt oder nur vernünftig? Recht gebe ich gern meinem Dialog-Partner: Ein guter Anfang ist das alle Mal.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 45 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 05.11.2000

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