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Auf zwei Minuten

An Lieblosigkeit sterben

Pater Damian

Pater Damian Meyer"Manche sterben durch Unfall. / Manche sterben durch Krankheit. / Manche sterben durch Gewalt. / Manche sterben an Alterschwäche. / Manche sterben durch eigene Hand. / Manche sterben an Lieblosigkeit - das ist der schlimmste Tod, weil man danach noch weiter lebt" (K. Allert-Wybranietz).

Vom Fenster meines Zimmers schaue ich auf einen Friedhof. Auf einem der Grabmale steht: "Meine lieben Eltern N.N. - Geliebt und unvergessen". Das Grab sieht verwahrlost aus: Keine immergrüne Bodenpflanze, keine Blume, nur ein Stück ungepflegter Rasen. Die Eltern sind vor dreißig Jahren gestorben, und vielleicht ist der Sohn oder die Tochter inzwischen auch tot oder in eine ferne Stadt gezogen ... Andere Gräber des Friedhofs sind dagegen schön geschmückt und gepflegt. Wer aber könnte am Zustand des Grabes erkennen, ob die Toten während ihres Lebens viel Liebe und Zuwendung erfahren haben? Es ist sicher wichtiger, seinen Lieben zu ihren Lebzeiten Blumen zu schenken, als diese aufs Grab zu pflanzen.

Sterben und Tod kündigen sich dem Menschen schon lange vor dem eigentlichen Ableben an. Durch mancherlei Krankheiten, durch nachlassende körperliche und geistige Kräfte, durch Verlust lieber Verwandte und Freunde wird der Lebensrahmen immer enger. Das ist ein natürlicher Prozess. Tragisch ist es, wenn Menschen vor dem Tod an Lieblosigkeit sterben. Wer als Kind keine Liebe erfahren hat, hat es sehr schwer, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln und echte Freude am Leben aufkommen zu lassen. Oft verkümmert er wie eine Blume ohne Sonnenschein.

Manchmal begegne ich solchen Menschen im Gefängnis. Sie hatten eine schwere Kindheit, wurden von der Mutter vernachlässigt und von einem häufig betrunkenen Vater geschlagen. Oder sie wurden von einem Heim ins andere geschoben. Durch fehlende Liebe und Zuwendung haben sie nie erfahren können, was ein erfülltes und glückliches Leben ist.

Jim Nolan erzählt in diesem Zusammenhang folgende Begebenheit: Über mehrere Wochen erschien fast täglich eine Prostituierte im berühmten Pariser Museum Louvre und betrachtete unentwegt ein Stillleben mit dem Titel "Brot und Wein". Neugierig geworden, fragte der Wärter der Abteilung die Frau, was sie an diesem Gemälde so fasziniere. "Ich sehe darin", sagte sie, "alle Dinge, die ich nie gehabt habe: Eine Familie, ein Heim, Kinder, Freude, wirkliche Liebe."

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 47 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.11.2000

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