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Aus der Region

Zum 100. Geburtstag von Anna Seghers

Zurückgeblättert

Als nach 1989 einer größeren Öffentlichkeit Einzelheiten über den Prozess gegen Walter Janka, den früheren Leiter des Aufbau-Verlages, bekannt wurden, geriet auch Anna Seghers ins Zwielicht. Sie hatte 1957 dem Prozess beigewohnt und nicht öffentlich erklärt, dass die Anklage gegen Janka Lüge war. Der pauschalen Verurteilung, Anna Seghers sei eine feige Parteischriftstellerin gewesen, folgte die ebenso pauschale Verteidigung, sie habe als standhafte Kommunistin ihre Kunst bewusst in den Dienst der Menschheitsbefreiung gestellt. Siebzehn Jahre nach ihrem Tod sollte die Zeit für eine differenzierte Beurteilung des Lebens und Werkes von Anna Seghers gekommen sein.

Denn bei aller berechtigten Kritik darf nicht vergessen werden, dass ihre Romane "Das siebte Kreuz" (1942) und "Transit" (1944) Höhepunkte der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert und bewegende Zeugnisse von der Überlebenskraft deutscher Antifaschisten sind.

Von Anfang an stellte Seghers Menschen dar, die über die Allgemeinheit herausgehoben sind, deren Leben etwas Besonderes besitzt. Das kann eine große Liebe sein, eine große Idee (die des Kommunismus oder des Chris-tentums) oder eine tiefe Freundschaft. Im Laufe des Lebens geht dieses Besondere den meisten Menschen verloren. Sei es durch den Tod, dass der geliebte Mensch stirbt oder ermordet wird; sei es durch Unachtsamkeit, dass eine Freundschaft nicht gepflegt wird oder dass alltägliche Sorgen einen Menschen von den großen Überzeugungen seines Lebens entfernen.

Anna Seghers war der Überzeugung, dass es sich lohnt, aus den Restangeboten, die jedes Leben bereit hält, ein sinnvolles erfülltes Leben aufzubauen. Das wäre zwar nicht mehr das he-rausgehobene, strahlende, sondern ein alltägliches, treues, anständiges und verantwortungsvolles Leben. Das wäre ein Leben, wie es viele führen, aller Anstrengung und aller Ehren wert. Marie Geschke aus dem Roman "Die Toten bleiben jung", 1949, ist eine solche Figur. Ihre Liebe zu einem jungen Soldaten war das Besondere ihres Lebens. Sie erfährt nie, dass er nach der Niederschlagung der Novemberrevolution erschossen wurde. Lange wartet sie auf ihn. Sie weiß ganz sicher, dass das Leben mit ihm etwas Großes geworden wäre. Sie hält ihm die Treue, auch als sie später einen Witwer heiratet und sich damit in ein alltägliches Leben begibt. Sie wird diesem neuen Leben voll gerecht. Ihr Leben erfüllt sich, wenn auch bescheidener, als es ursprünglich angelegt war. Am Ende des Romans, das heißt am Ende des Zweiten Weltkrieges, als Marie Geschke bereits eine alternde Frau ist, liegt über ihrem Gesicht ein "stiller und schwacher Glanz". Das ist viel im Grau der Trümmer und der Gesichter.

1947 wurde Seghers für "Das siebte Kreuz" mit dem Büchnerpreis geehrt. In der DDR wurde sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes, sie erhielt hohe Auszeichnungen und verhielt sich, wenigstens in der Öffentlichkeit, parteikonform. Nun besteht die Möglichkeit, ihr Werk ohne ideologische Scheuklappen zur Kenntnis zu nehmen. Wer damit beginnen will, dem sei die 1946 entstandene Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen" empfohlen.

Jürgen Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 47 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.11.2000

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