Mahnung zur sozialen Verantwortung
Im Gespräch (3)
Gib jedem, der dich bittet; und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück! / Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso! / Und wenn ihr liebt, die euch lieben, was für einen Dank habt ihr? Denn auch die Sünder lieben, die sie lieben. / Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für einen Dank habt ihr? Auch die Sünder tun dasselbe. / Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr wieder zu empfangen hofft, was für einen Dank habt ihr? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das gleiche wieder empfangen. / Doch liebt eure Feinde, und tut Gutes, und leiht, ohne etwas wieder zu erhoffen! Und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
(Lk 6, 30-35)
Auslegung Claus-Peter März:
Die Bergpredigt erhält ihre besondere Prägung durch die Forderung nach einer "Liebe", die keinem ausweicht und selbst vor dem Feind nicht kapituliert. Dieses Thema bewegt auch unseren heutigen Text: "... wenn ihr nur liebt, die euch lieben, was für einen Dank habt ihr? ... Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für einen Dank habt ihr? ... Und wenn ihr nur denen leiht, von denen ihr es wieder zu empfangen hofft, was für einen Dank habt ihr?" Jesus wendet sich einer neuen Gruppe zu. Er spricht nicht mehr zu den Kleinen und Hilflosen, die geschlagen, gedemütigt und ausgeplündert werden. Er spricht die an, die dem "oberen Bereich" der Gesellschaft angehören - jene, die nicht nur genug zum Leben haben, sondern auch in der Lage sind, andere mit ihren Mitteln zu unterstützen: Almosen zu geben, Spenden auszureichen, Geld vorzustrecken, in hilfreiche Projekte zu investieren ... Das mag hierzulande beim ersten Hinhören vertraut klingen, hat aber doch die ungleich brutalere Wirklichkeit im Palästina des 1. Jahrhunderts vor Augen. Da ging es nicht nur um die Sicherung von Besitzständen, sondern meist ums nackte Überleben: Wie sollte einer der vielen Pächter nach einer Missernte mit kaum nennenswerten Erträgen Pacht bezahlen, Saatgut zurücklegen und auch noch die Familie durchbringen, wenn ihm keiner etwas zur Überbrückung vorstreckte? Was sollte er tun, wenn er für ein Darlehen so hohe Zinsen zu zahlen hatte, dass er den Zusammenbruch lediglich um ein Jahr verschieben konnte? Wovon sollten in schlechten Zeiten die leben, die nichts mehr zu verlieren hatten und als heimatlose Lohnarbeiter durchs Land zogen? Sie alle hatte Jesus vor Augen: Die galiläischen Kleinpächter, die Landarbeiter und Tagelöhner und die, die sich in jahrelange Schuldknechtschaft begeben mussten, weil sie bestimmte Forderungen nicht hatten begleichen können. Sie waren nicht nur auf die Hilfe anderer angewiesen, sie waren auch darauf angewiesen, dass deren Hilfe sie nicht in eine noch größere Schuld hinein trieb. Deshalb spricht Jesus zu den Besitzenden über das rechte Geben und kritisiert, dass viele ausschließlich am eigenen Gewinn interessiert seien. Er hält ihnen die Verantwortung für das Ganze vor Augen: "Setzt euer Geld ein, aber fragt nicht nur danach, was es euch bringt und wie ihr es auf Kosten der anderen vermehren könnt. Schaut nicht nur verbissen danach, wie sich das Engagement für euch auch auszahlt. Begreift statt dessen, dass ihr die Chance habt, anderen ein Stück Leben zu eröffnen ...!"
Schon während ich das niederschreibe, läuten bei mir die Alarmglocken: Heißt das, dass wir allen wirtschaftlichen Sachverstand beiseite lassen sollen? Sicher nicht! Aber es geht um die Grundorientierungen der Gesellschaft. Jesus fordert die Besitzenden zu einer solidarischen Grundorientierung auf, bei der nicht der eigene Gewinn, sondern die Chancen der nicht Begüterten im Vordergrund stehen. Wer hat, hat das, was er hat, nicht nur für sich, sondern auch für andere. Er soll helfen, dass sich auch für die, die aus eigener Kraft nicht für sich aufkommen können, realistische Chancen eröffnen ... Oft, wenn ich in der letzten Zeit über diese Texte gesprochen habe, kam das Gespräch wie von selbst auf die Erfahrungen der Wende- und Nachwendezeit: ... ob mancher Betrieb im Osten nicht bewusst in den Konkurs gefahren wurden, um Marktstellungen zu sichern, ob nicht viele sich deshalb zurückgezogen haben, weil sie hier "keinen Schnitt" mehr machen könnten. Und schon schienen die Adressaten für die Mahnung Jesu gefunden und wir selbst standen auf der Empfängerseite ... Es dauerte dann meist eine gewisse Zeit, bis allen klar wurde, dass Jesu Weisung uns nicht so einfach davonkommen läßt. Er würde uns nicht den Armen zuzählen. Natürlich gibt es auch in unserem Land soziale Not, und sie muss uns herausfordern, aber die viel schlimmere Armutslinie liegt jenseits unserer Landesgrenzen. Dann aber ist es Blindheit, wenn unser Bemühen um Menschlichkeit an unseren Landesgrenzen endet. Dann ist der minimale Anteil der Entwicklungshilfe am Gesamthaushalt unseres reichen Landes eigentlich ein Skandal. Dann stellt der zögerliche Umgang mit der Möglichkeit eines Schuldenerlasses für die armen Völker die Frage, wie zukunftsfähig wir noch sind?
Am Text der Bergpredigt fällt mir auf, dass nach den Mahnungen zum rechten Geben nochmals die Weisung zur Feindesliebe erscheint. Das bedeutet: In Jesu Worten fließen die Mahnung zu sozialer Verantwortung und zur Feindesliebe ineinander. Und das macht - leider - durchaus Sinn: Nicht wenige in unserem Land betrachten das Verlangen der "anderen" nach unseren sozialen Segnungen durchaus als Angriff und die Forderung der armen Völker nach einem gerechten Anteil am Reichtum der Erde als Gefahr für die eigenen Besitzstände. Wie weit ist es von dort noch zu der Vorstellung, dass diese "anderen" unsere Gegner sind und uns als "Feinde" gegenüberstehen?
Auslegung Heinz Stade:
Jüngste Begegnungen sollen in diesem Dialog fast für sich sprechen. "Guter Mann", sprach mich der nicht ganz Gleichaltrige an einem Vormittag dieses schönen Herbstes auf dem Erfurter Anger an, "haben Sie mal zwei Mark für mich - für Leberwurst und ein bisschen Brot dazu?" Was bei dem Mann oder der Frau, die schweigend auf dem Anger kniet und die bettelnde Hand ausstreckt im Alltag noch gelingen mag, war ( jedenfalls mir ) hier und jetzt nicht möglich: Ausweichen, Weitergehen, Wegschauen. Dabei hätte es durchaus gelingen können.
Der Mann sah zwar nicht allzu "abgerissen" aus. Jedoch trug er ein anderes, ziemlich sicheres Signal vor sich her, eine kräftige Alkoholwolke. Das hätte meine Ablehnung erleichtern können. Hat es aber nicht. Denn er erzählte weiter, spulte sein jetzt erbärmliches Dasein ab als Ergebnis der Zeit nach der politischen Wende von 1989. Und der Alkohol? "Nur heute früh, ausnahmsweise. Ich habe einen alten Kumpel wieder getroffen, der hat eine Büchse ausgegeben." Das alles konnte ich glauben oder nicht. Hängen blieb die verunsichernde Bitte nach Geld für Brot und Wurst. Wir gingen in die nächste Kaufhalle, kauften das Gewünschte und ich eilte flugs weiter. Das Gewissen war fürs Erste beruhigt - mehr nicht. Denn was tue ich beim Nächsten? Mit welchem Bedacht gehe ich an den anderen vorbei, die mich stumm anflehen und mir natürlich ansehen, dass ich besser dran bin als sie? Ist es die Ohnmacht vor dem "Fass ohne Boden"? Ist es das Wissen um den möglichen und allgegenwärtigen Missbrauch? Ich lese in der Zeitung von der ukrainischen Wirtschaftsmafia und weiß zugleich, dass ein Club - dem Claus-Peter März und ich angehören - just in dieses Land mehrere Tausend US-Dollar bringt für humanitäre Zwecke. Dort hungern alte Menschen, fehlt es Waisenkindern an Essen und Medikamenten. Wird unsere Hilfe diese Menschen oder, trotz aller eingebauter Sicherungen, genau die Falschen erreichen? Für beide Varianten gibt es hinreichend Beispiele. Die positiven ermuntern uns, nicht nachzulassen.
Eigennutz ist auch einem anderen Mann fremd, den ich vor kurzem auf der Wartburg bei Eisenach kennen lernte. Als gut verdienender freier Marketingberater in Hamburg lebend, muss er oft "heiße Luft" verkaufen. Es sei dies so, als würde er auf einer Galeere Ruderer sein und immer nur auf der einen Seite sitzen. Jetzt wollte er auch einmal auf die andere Seite. Ein Großteil seines Vermögens setzte er dafür ein. Er sammelte bereitwillig mitmachende junge Leute um sich, begeisterte 750 Laien-Vorleser und brachte es so schließlich zur ersten Hör-Bibel der Welt. Aufgenommen auf den derzeit modernsten Datenträger ( DVD ) kann man darauf während insgesamt rund 22 Stunden das Neue Testament hören. Der erfahrene Geschäftsmann, der in seinem bisherigen Leben zugegebenermaßen "mit der Kirche wenig am Hut" hatte, gab alles für dieses Sinn stiftende Projekt. Ob es sich rechnet, wie es heute so schön heißt? Die Frage, so sagt er, stehe für ihn nicht. Er könne auf das Geld verzichten, wenn nur die Hör-Bibel ihren Weg gehe und bei anderen erreiche, was sie in ihm schon bewirkt habe. "... und leiht, ohne etwas wieder zu erhoffen. Und euer Lohn wird groß sein..."
Schließlich die Begegnung mit dem Manager unterhalb der Wartburg. "Bei uns ist nicht die Bewegung alles, sondern das Ziel. Und das heißt Profit", sagt der schon zu DDR-Zeiten im Wirtschaftsleben erfolgreiche Mann an der Spitze eines auch in der Marktwirtschaft gut agierenden Unternehmens der Region. Das hat er gelernt von Leuten aus dem Westen, die sich 1989/90 als Partner anboten und dann - mit den Filetstücken des alten VEB in der Hand - eigene Wege gingen. Die fast 500 Mitarbeiter des über Nacht allein gelassenen und ausspionierten Unternehmens waren plötzlich aus Trotz motiviert: Jetzt erst Recht. Mit Erfolg. Die Chance zu einem neuen menschlichen Miteinander zwischen Besitzenden und Hilfe Erhoffenden war vertan. Dennoch zeigt der Eisenacher Chef sich den alten "Feinden" gegenüber inzwischen generös: "Ort und Zeit bestimmen das Handeln." Auch er hatte übrigens in seinem bisher über 50-jährigen Leben mit der Kirche "nichts am Hut."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.11.2000