Ein Kirchenfenster beschreibt einen Weg
Weningerode
Wernigerode - "Mein Lebensziel habe ich erreicht", sagt Günter Grohs. "Ich wollte schon als Kind Kirchenfenster machen." Oft habe er in seiner Schulzeit zusammen mit den Eltern Gotteshäuser besichtigt oder sich allein in die evangelische Christuskirche seiner Heimatstadt Wernigerode gesetzt, erinnert sich der diplomierte Glasgestalter. Dass er religiöse Motive später einmal so aufgreifen würde, wie er es heute tut, konnte der 42-Jährige als Junge freilich nicht ahnen: "Damals hatte ich Jahrhundertwende-Fenster vor Augen, zum Beispiel den segnenden Christus."
Ganz anders, die von ihm gestalteten Kunstwerke: Wer versuche, etwas Göttliches zu zeigen, dürfe sich nicht mit alltäglichen Gestaltungsmöglichkeiten begnügen, ist Grohs überzeugt. Er greift deshalb schon mal zum Stempelkasten seiner Kinder und nutzt verfremdete Nilpferd- oder Schildkrötenumrisse, um auf den Papierentwürfen seiner Fenster Strukturen anzudeuten, die das Glas später beim Brennen erhalten soll.
Formen und Muster für seine Glasarbeiten zu finden, fällt Grohs leicht: "Ich schaue mich um und dann weiß ich, dass mir was einfällt. Es gibt ja so viel zu entdecken, was die Leute verlernt haben zu sehen", versichert er, wischt mit der rechten Hand über eine verstaubte Fensterscheibe, deren gräulicher Belag wie ein feines Netz wirkt. Dann schaut er nach unten, dorthin, wo auf dem braunen Teppichboden ein langer roter Strich zu sehen ist. Seine fünfjährige Tochter und ihr ein Jahr älterer Bruder zeichnen manchmal im Arbeitszimmer. Schließlich nimmt Grohs ein paar Fotos zur Hand. Auf einem ist eine Hauswand zu sehen, von der der Putz bröckelt, auf einem anderen eine verfallene Steinmauer. Ein drittes zeigt mehrere Reihen grauen Straßenpflasters in Nahaufnahme. Wer mit offenen Augen durchs Leben gehe, der sehe auch etwas, meint Grohs, "Spuren von etwas".
Dass er ein gläubiger Mensch sei, merkten Betrachter auch an seinen Fenstern, ist der evangelische Christ überzeugt, selbst wenn diese meist "nur" aus rechteckigen Flächen bestünden. Bei einem romanischen Kruzifix sehe Jesus ja auch nicht aus "wie ein Mensch". Immer wieder passiert es freilich, dass eine Gemeinde andere Vorstellungen von ihren Kirchenfenstern hat als der Künstler: Die katholische Pfarrei St. Marien in Limbach-Oberfrohna habe sich zum Beispiel eine Marienfigur im Glasoberlicht ihres neu gebauten Gotteshauses gewünscht, berichtet der Glasgestalter. Stattdessen zieren nun seit drei Jahren blaue Streifen - "marienblau" nennt sie Grohs - das gläserne Teilstück der Kirchendecke, das vom Eingang bis vor zum Altar reicht.
Für Grohs beschreibt dieses Oberlichtband einen Weg: "Hier sind Einschnitte. Sie besagen, dass kein Weg glatt verläuft", erläutert er. Zwischendurch hört das Blau auf, wird von weißem Glas unterbrochen: An dieser Stelle sei der Weg nicht zu erkennen, sondern nur "erahnbar" - wie bei jemandem, der das Ziel aus den Augen verloren habe.
Vor dem Altar hat Grohs mit schwarzen Linien ein Kreuz angedeutet: "Man kann es sehen, muss es aber nicht wahrnehmen", erläutert er. Überhaupt könne Kunst immer nur Anregungen geben, selbst etwas zu hinterfragen. Deshalb wolle er nichts zeigen, "was wir alle schon gesehen haben". Denn das schaue sich niemand ein zweites Mal an. Vielmehr versuche er, Freiräume zu schaffen, die jeder für sich interpretieren könne. Außerdem bemühe er sich, "zeitlos" zu arbeiten. Ein Bleiglasfenster halte schließlich hundert Jahre und müsse "denen, die nach uns kommen, auch noch etwas zu sagen haben".
In der Marienkirche endet die Reihe hellblauer Glasflächen dort, wo die Altarstufen beginnen. Grohs hat über dem Altarraum ganz bewusst auf Farbe verzichtet: "Ich höre hier auf, dort fängt das Andere an: das Wort der Verkündigung".
Bis zu einem fertigen Kirchenfenster ist es auch für den Künstler oft ein langer Weg: Steht der Entwurf erst einmal gedanklich, macht sich Grohs an die gestalterische Umsetzung. Dazu zeichnet er die Umrisse der Fenster mit schwarzem Filzstift auf festes Papier, besprüht große Bögen mit Farbe, schneidet sich winzige Rechtecke aus und klebt sie auf die Miniaturfenster. Am besten funktioniere das unter Zeitdruck, meint der Glasgestalter.
Als Nächstes geht es dann ans Fertigen einer Vorlage in Orignialgröße. Der Künstler greift nach einer langen, weißen Papierrolle, die im Arbeitszimmer an der Wand lehnt, entrollt diesen Bauplan stückenweise auf dem Fußboden, über den Stifte, Lineale, Kartons, Entwürfe und allerlei andere Aufzeichnungen verstreut liegen: 8,20 Meter misst das Fenster auf dem Papier. So hoch sind die Kirchenschifffenster in der katholischen Kirche St. Lamberti in Gladbeck.
Anhand dieses so genannten Lichtmaßaufrisses wählt Grohs später in der Werkstatt den passenden Farbton für jede einzelne Glasplatte. Vor Weihnachten soll die Bestellung in der Glashütte eintreffen. Schließlich müssen die gläsernen Kunstwerke noch in das betreffende Gotteshaus eingebaut werden - wie demnächst vier Altarraumfenster in der Arterner Kirche St. Bonifatius.
Bevor die Idee für ein Fenster konkret wird, stehen meist zahlreiche Gespräche mit Geistlichen, Pfarrgemeinderäten und Architekten an: "Ich fahre hin, halte Vorträge und zeige Lichtbilder von ausgeführten Arbeiten." Vor Ort Überzeugungsarbeit zu leisten, mache ihm zwar Spaß, sei aber oft auch anstrengend, gesteht Grohs. Die Zusammenarbeit setze schließlich großes Vertrauen voraus. Die Gemeinden müssten bereit sein, sich auf etwas einzulassen, "wo man nicht weiß, wie's ausgeht". Umso mehr freut sich der Glasgestalter über positive Resonanz auf seine fertigen Arbeiten. Im ostfriesischen Osteel beispielsweise hätten ihm zwei Frauen gesagt: "Herr Grohs, Ihre Fenster sehen aus, als wären sie schon immer hier gewesen."
Karin Hammermaier
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 10.12.2000