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Aus der Region

Missbrauch ist keine Randerscheinung

Caritas Suhl

Suhl (jk) - "Wir wollen dieses Thema enttabuisieren, damit Opfer und Täter ihr Schweigen brechen können", sagt Brigitta Wurschi über einen Teilbereich ihrer Arbeit bei der Caritas-Beratungsstelle in Suhl. Die ausgebildete Ehe-, Familien- und Lebensberaterin betreut Mädchen und Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Seit sie vor acht Jahren das erste Mal mit Fällen sexuellen Missbrauchs in Berührung kam, hat sie dieses Thema nicht mehr losgelassen.

Damals seien von verschiedenen Seiten Anfragen gekommen, ob die Caritas Mädchen und Frauen beraten und betreuen könnte. Zu dieser Zeit gab es in Suhl nur einen niedergelassenen Psychologen und bei der Arbeiterwohlfahrt eine andere Therapeutin, die sich des Themas hätten annehmen können. "Zu DDR-Zeiten wurde sexueller Missbrauch sehr tabuisiert. Er war kaum im Bewusstsein der Öffentlichkeit vorhanden", so Brigitta Wurschi. Langsam hätte sie sich dann an das Thema herangetastet und viel mit Kollegen anderer Beratungsstellen zusammengearbeitet. Eine Arbeitsgemeinschaft, die aus Mitarbeitern verschiedener Beratungsstellen und des Jugendamtes bestand, wurde gegründet, um in Suhl und Umgebung ein Netzwerk aufzubauen, Öffentlichkeitsarbeit zu machen und Weiterbildungen anzubieten. "Es war uns ganz wichtig, dieses Thema in die Sprache zu heben", so Frau Wurschi. Ein Erfolg dieser Arbeitsgemeinschaft ist es, dass es nun auch in Suhl seit anderthalb Jahren einen Kinderschutzdienst gibt, bei dem Kinder und Jugendliche schnell und unbürokratisch, auf Wunsch auch anonym, Beratung und Hilfe bekommen, wenn sie Opfer von Gewalt geworden sind.

Die Beratung von sexuell missbrauchten Mädchen und Frauen sei sehr schwierig und brauche viel Zeit. Wichtig sei es zunächst, bei den meist wöchentlichen Treffen einen engen Kontakt herzustellen und Vertrauen zu schaffen. "Es kann sein, dass es ein, zwei Jahre dauert, bis jemand davon erzählen will und kann", so die Familien- und Körperpsychotherapeutin.

Ein typisches Gefühl der Opfer sei, dass sie sich nicht mehr in ihrem Körper zu Hause fühlen könnten oder in ihren Gefühlswahrnehmungen sehr verunsichert sind. Das Ziel der Therapie sei es dann, dass Gefühle wieder spürbar werden, man sich selbst und andere wieder gut wahrnehmen kann und vor allem, dass sich das Mädchen oder die Frau auch selbst wieder gern haben kann. Wenn das gelingt, dann nur nach langer Zeit.

Die Folgen von sexuellem Missbrauch seien gravierend. Abgesehen davon, dass Partnerbeziehungen von sexuell missbrauchten Mädchen und Frauen häufig scheitern, können Depressionen, Magersucht, Autoaggression (gegen sich selbst gerichtete Aggression) und ein gestörtes Sozialverhalten auch Folgen sein.

Brigitta Wurschi hat in ihrer Beratung meistens mit Fällen zu tun, wo der Missbrauch lange, zum Teil Jahrzehnte, zurückliegt. Aus Selbstschutz verdrängen die Opfer oft jahrelang, was ihnen in Kindheit und Jugend geschehen ist. Sexueller Missbrauch sei "keine Randerscheinung", in allen Gesellschaftsschichten unabhängig von Wohlstand und Weltanschauung vorhanden und komme am häufigsten im nahen Verwandtenkreis vor. Frau Wurschi: "Je näher sich Opfer und Täter stehen, umso schlimmer ist es, und umso häufiger schweigen die Opfer." In der Familie sei dann oft das Totschweigen der Normalfall, dazu komme noch, dass Kindern und Jugendlichen oft nicht geglaubt werde.

Die Caritas-Beraterin appelliert deshalb: "Wenn Kinder auffällig werden, sollen Eltern und Bekannte das ernst nehmen." Wichtig sei es auch, dass ein "Nein" der Kinder respektiert werde.

Brigitta Wurschi stößt bei ihrer Arbeit auch an ihre eigenen Grenzen. "Man braucht als Therapeut eine gute Psycho-Hygiene für sich selbst", sagt sie, "das Schwierige an der Arbeit ist, das alles selber auszuhalten." Trotzdem gibt es auch bei ihrer Arbeit Lichtblicke: "Wenn es zunehmend gelingt, dass eine Frau in ihrem Körper wieder ankommt und ihre Gefühle spürt und äußert zum Beispiel."

Sie und ihre Mitarbeiterinnen wollen, dass Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, auch in ihrer kirchlichen Beratungsstelle einen Platz finden. "Es ist mein pastoraler Auftrag, für diese Menschen einfach dazusein", meint sie und fügt hinzu: "Ich bin davon überzeugt, dass Heilung möglich ist - auch wenn Narben bleiben."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 51 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.12.2000

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