Nicht richten, nicht verdammen
Im Gespräch
Die "Bergpredigt" ist einer der zentralen Texte des Neuen Testaments. Der Journalist Heinz Stade und der Theologe Claus-Peter März fühlten sich angeregt, sie von unterschiedlichen Standpunkten her zu betrachten, also so etwas wie eine "Auslegung im Gespräch" zu versuchen. Das letzte "Gespräch" dreht sich rund um das Jesus-Wort: "Richtet nicht, damit auch ihr nicht gerichtet werdet. Verdammt nicht, so werdet auch ihr nicht verdammt ... Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders Auge ist, den Balken aber, der in deinem eigenen Auge ist, nimmst du nicht wahr? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, erlaube, ich will den Splitter herausziehen, der in deinem Auge ist, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge! Und dann wirst du klar sehen, um den Splitter herauszuziehen, der in deines Bruders Auge ist. Lk 6,37-42"
Auslegung Claus-Peter März:
Wir könnten uns lange damit aufhalten, was der Spruch vom Richten eigentlich meint, und wir könnten eingehend darüber philosophieren, wem das Bildwort vom Balken und vom Splitter vielleicht in besonderer Weise gilt. Doch, welche Wege oder Umwege des Verstehens wir auch wählen - irgendwann fällt das Wort auf uns selbst zurück. Es wird deshalb einfacher sein, wenn wir es gleich einmal auf uns beziehen. Dabei muss ich freilich gestehen, dass der Text mir ein wenig Angst macht - einfach deshalb, weil er etwas Verführerisches an sich. Er bringt, kaum dass man ihn ausspricht, fast automatisch in uns jenes Urteilen in Gang, gegen das er eigentlich redet. Da hören wir vom Balken und vom Splitter und schon stehen uns Leute vor Augen, auf die Jesu Mahnung unserem Empfinden nach besonders abzuzielen scheint: Solche, die gnadenlos über andere urteilen und geradezu ein Vergnügen daran zu haben scheinen, die Augen ihrer Mitmenschen nach irgendwelchen Balken abzusuchen ... Und wenn wir diese Leute erst einmal vor Augen haben, dann sind wir auch schon mitten drin im Abwerten und Verurteilen ...
Fast scheint es, als habe Jesus das Wort bewusst derart "verführerisch" ausgesprochen, damit es den, der es unbedacht für sich in Anspruch nehmen will, sogleich die Augen für seine eigenen Vorurteile öffnet ... Was aber soll ich tun, wenn ich immer wieder wie von selbst in solches Richten hineingerate? Soll ich mich etwa - um ja nicht über andere zu urteilen - jeder Stellungnahme enthalten? Soll ich vor jeder Auseinandersetzung fliehen? Mich etwa nicht mehr einmischen in die Dinge, die doch anstehen? Sicher nicht! Es kommt wohl darauf an, das Urteilen nicht zum Verurteilen werden zu lassen und in allen notwendigen Auseinandersetzungen um die Sache doch den anderen als Menschen gelten zu lassen. Wir müssen Stellung beziehen, Vorschläge beurteilen, Menschen hinsichtlich ihrer Eignung für bestimmte Aufgaben einschätzen, aber wir haben nicht über sie als Menschen Urteile zu fällen, sie gar abzuurteilen oder zu verdammen.
Wir reden soviel über "Streitkultur", die menschlichen Respekt bei aller notwendigen Auseinandersetzung gewährleisten soll. Was könnten Gruppierungen, die die Aufmerksamkeit der Medien haben und Abend für Abend per Fernsehen in unseren Wohnzimmern präsent sind, für diese Kultur des sachlichen, aber zugleich menschlichen Umgangs miteinander tun. Ich träume von Parlamentsdebatten, da sich die von uns gewählten Abgeordneten nicht der "Lüge", des "Betrugs" oder der "Schamlosigkeit" bezichtigen, sondern in Rede und Gegenrede verpflichtet wären, auch die Vorstellung der anderen Seite in ihren Vorteilen zu würdigen. Ich träume von einem neuen Klima der notwendigen innerkirchlichen Diskussionen, bei denen Außenstehende den Eindruck eines zwar kontroversen, aber doch auch gemeinsamen Ringens um ein schwieriges Problem hätten ... In einer Auslegung der Bergpredigt habe ich das Gebet eines Indianers gelesen: "Großer Geist, hilf mir, dass ich niemanden richte, ehe ich einen halben Mond lang in seinen Mokassins gegangen bin." Das wäre schon ein guter Anfang - damit die Splitter in unseren Augen nicht zu Balken werden.
Auslegung Heinz Stade:
Wären dies doch nicht nur Sätze aus der Bibel "von der alle sprechen, die aber keiner kennt" wie neulich einer zu mir sagte, der sich als "ganz normaler Christ" ansieht. Wären die unzweideutigen Sprüche vom Balken und dem Splitter stattdessen Sätze aus einem quasi für jedermann an jedem Ort verbindlichen Gesetzestext! Was wäre mir und dir, was diesem und jenen, ja,was wäre der Menschheit an Leid erspart geblieben. So aber ... Worte sind gewaltig. Aber sie allein können bekanntlich nicht einmal das Licht einer Kerze löschen. Erst im konkreten Zusammenhang, real auf einen Zustand oder Menschen angewendet zeigen sie, was sich wirklich mit ihnen anrichten lässt. Mit Worten, Jesus wusste es und wir erfahren es geradezu alltäglich, lassen sich Menschen erniedrigen, verunsichern, verletzen und schließlich sogar erschlagen. Das ist so einfach für den Absender und tut meistens auch überhaupt nicht weh. Wir alle kennen solche Vorgänge und Mitmenschen, die sie auslösen. Ich kenne die in Thüringen lebende Frau eines Pfarrers, der sein Leben nicht mehr weiter leben konnte und wollte, seit es durch die Gassen und dünnen Wände des touristisch beschaulichen Städtchen wisperte, er werde "wohl auch dazu gehört" haben. Verdächtigt als IM gab er Wochen später auf. Kurze Zeit nach dem Freitod ernannte das Stadtparlament ihn, dem die Stadt während der politischen Wende von 1989 unüberhörbare und bleibende Impulse zu verdanken hat, zum Ehrenbürger. Ein Mensch tot, eine Familie unglücklich, eine Stadt zerstritten - und wie fühlt er, wie sie sich, die den Balken im eigenen Auge nicht wahrnehmen wollten? Empfinden sie sich als Heuchler?
Wären dies keine Sätze aus der Bibel sondern Gesetzestext, welcher Zuwiderhandlungen angemessen bestraft, um wie viel anders sähen wahrlich nicht nur hierzulande die Medien aus. So aber schützen einfache, oft sehr kurzsilbige Worte eine in täglicher Verantwortung stehende Gruppe von Menschen davor, für ihr gelegentlich unheilvolles Werfen mit Worten oder verbalen Versatzstücken belangt werden zu können. Er soll Dopingmittel genommen haben. Sie könnten in einen Filz verstrickt sein. Das Kind entstand vermutlich bei einem Seitensprung mit ... Macher der Medien ebenso wie jene, die Radio, TV und Zeitungen in Anspruch nehmen, wissen sehr wohl was es bedeutet, eine Verdächtigungsmaschinerie in Gang zu setzen. Und doch scheint sie sich nicht anhalten zu lassen. Oder? Ich kenne nicht wenige Kollegen meiner Berufssparte, die eines solchen Appells nicht bedürfen. Und ich kenne auch nicht wenige Leser, die sehr wohl zu differenzieren wissen, wenn an Stammtischen oder höheren Ortes von den Journalisten und dem Journalismus die Rede geht. Es bleibt die Frage, die wir auch während des hier geführten Dialoges nicht schlüssig und nur wenig handhabbar beantworten konnten: Mitmachen und Anpassen, weil "die anderen" sich sowieso nicht ändern oder den Mut, die Courage und die Geduld aufbringen wie jener weise Mann in Mokassins, von dem nebenstehend hoffnungsvoll zu lesen ist. Mir bleibt der Zweifel, ob es der Bibel und des Glaubens an Gott bedarf um zur richtigen Entscheidung zu finden.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.12.2000