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Aus der Region

Dissidenten besichtigen ein für sie vorgesehenes Lager

Schloss Seeburg/Eisleben

Zwischen Wäldchen, Weinbergen und Streuobstwiesen, auf einer Halbinsel im Süßen See bei Eisleben liegt Schloss Seeburg. Mit seinem Wehrturm, seinen meterdicken Mauern und eisernen Toren fand es das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) gut geeignet als "zentrales Isolierungsobjekt". Hier und in einem anderen Objekt wären bei Krisen, im Krieg, im "Spannungsfall" oder auch "in Form von vorgezogenen Maßnahmen" etwa 500 Frauen und Männer des Bezirks Halle eingesperrt worden: Personen, "von denen ... eine akute Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen kann oder die solche Handlungen dulden oder unterstützen." Außerdem Personen mit Ausreiseanträgen, "Kriminelle, deren Strafverbüßung abgelaufen ist", "stark kirchlich gebundene Kräfte" - also alle, in denen der Staatssicherheitsdienst besondere "Unsicherheitsfaktoren" sah. Einige von ihnen hatten kürzlich Gelegenheit, das für sie geplante Isolierungslager zu besichtigen.

Zunächst versetzte sich die Gruppe ins Frühmittelalter: Immer wieder wird das Schloss überfallen, ausgeraubt, niedergebrannt. Es wird von Grafen, Herzögen und Kirchenfürsten erbeutet, um- und ausgebaut. Es ist Zufluchtsort für Kriegsflüchtlinge - zuletzt 1945. Vor dem zweiten Weltkrieg befindet sich eine "Führerschule" hier, zu DDR-Zeiten eine Landwirtschaftsschule mit Internat. Über die MfS-Absichten waren vor der Wende nur Gerüchte durchgedrungen. Seit 1990/91 kann die Öffentlichkeit von der Geheimen Kommandosache Kenntnis nehmen, die Stasi-Minister Mielke 1967 erließ. Die Absicht, unbequeme Menschen in Lager zu sperren, ist für alle Diktaturen typisch. In der DDR gab es schon in den frühen 60er Jahren konkrete Pläne. Ende 1988 waren im "Vorbeugekomplex" re-publikweit 86 000 Bürger erfasst - davon die meisten aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt, gefolgt von den Bezirken Leipzig und Dresden. Städte mit den höchsten Zahlen sind Jena, Dresden und Halle. Zu diesem Zeitpunkt existierten etwa 17 "Isolierungsobjekte", mindestens eins in jedem Bezirk. Nur im Bezirk Suhl fand sich kein geeignetes Objekt, das wenigstens 60 Kilometer von der Grenze zur Bundesrepublik entfernt war, wie es die Bestimmung verlangte.

Jeder MfS-Kreisdienststellenleiter verwahrte zwei versiegelte Kuverts, die den Befehl zur "schlagartigen und konspirativen" Verhaftung binnen 24 Stunden enthielten. Zuerst war der Aufenthalt der "Zielperson" zu ermitteln und bei unbekanntem Aufenthalt nach ihr zu fahnden. Der Festnahme und dem Aufenthalt in "zeitweiligen Isolierungsstützpunkten" (leerstehende Gefängnisse, Wohn- und Sportlerheime, Messehallen ...) wäre die Deportation zum "zentralen Isolierungsobjekt" gefolgt.

Alles war penibel geplant: Über jeden mit Nummer registrierten Isolierten wäre eine Handakte angelegt worden. Personenbeschreibung samt Fingerabdruckbogen, "Sicherstellung der Effekten"; Haus- und Kleiderordnung, Kennzeichen an Armbinden, erlaubter Besitz. Belegungsplan für Gemeinschaftsunterkünfte. Die Ausrüstung der Wachgruppe mit Such-, Schutz- und Wachhunden, mit Führungsketten, Stopspray, Schlagstöcken, Reizwurfkörpern, Handgranaten, Panzerbüchsen, Maschinen- und Scharfschützengewehren. Verboten war dem Zählappell fernzubleiben, ohne Aufsicht die Sicherheitszone zu betreten, "sich aus Räumen heraus bemerkbar zu machen", "körperliche Selbstbeschädigung herbeizuführen", postalische Verbindung - außer in Todesfällen.

Das Mahl der Tafel ist karg. Die tägliche Gefangenenkost hätte in zwei warmen oder kalten Getränken und 300 Gramm Brot bestanden. An jedem Platz liegt eine Tüte mit dieser Ration. Die Zwiebel ist schon eine Zugabe, ganz zu schweigen vom trocknen Weißwein... Man prostet sich zu, trinkt auf die Freiheit. Das klingt pathetisch und irgendwie auch verspätet. Aber warum nicht? Bisher hatte niemand in der Runde eine klare Vorstellung von der Unterbringung in einem Lager.

Nach der Revolution hatten viele die Gewißheit eines Schicksals, das ihnen - unter anderen Umständen - zuteil geworden wäre. Aber wie sah es aus? Die Pläne aus den Stasipapieren müssen mit Phantasie ergänzt werden. Deutliche Bilder haben die, die schon einmal inhaftiert waren. Und sie erzählen vom "Roten Ochsen", von Cottbus, von Bautzen. Einen Mann erinnert der Geruch der feuchten Mauern hier an den Geruch der Katakomben dort. Einer Frau fällt Nordhausen ein und Buchenwald: "Immer werden doch für so schlimme Vorhaben Orte gewählt mit unheimlich schöner Umgebung."

Doch man hätte nicht hinaus sehen können, man hätte überhaupt nicht gewusst, wo man ist. Der Blick aus den Fenstern fällt auf das Seeufer, die sanften Hügel, Laubfärbung. Bald wird hier wieder umgebaut: Ferienwohnungen. "Wahrscheinlich ist es immer so, dass man sich ein Gefängnis in Freiheit nicht vorstellen kann", sagt einer. Ein anderer spricht von seiner ständigen Angst vorm Staatssicherheitsdienst damals. "So wie die Staatsfeindlichkeit begründeten, wie die ihre Maßnahmen formulierten - die reinste Willkür! Wie rabiat wären die wohl mit uns umgegangen. Ist nicht in den Akten von Ausschaltung, Liquidierung, Vernichtung subversiver Kräfte die Rede!" Der erste sieht auch bei der Stasi eine "Heidenangst vor den eigenen Landsleuten". Das ändert nichts an der beklemmenden Situation. Aber: "Wir können Gott nur auf Knien danken, dass die Gefangenschaft an uns vorüberging." Zwiespältige Gefühle bleiben. Einer hatte anfangs Bedenken, ob es nicht makaber sei, was heute passierte; es sei Scherz getrieben worden mit Entsetzen, aber das Entsetzen, der Ernst dabei, sei doch nicht verdrängt worden.

Christoph Kuhn

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 52 des 50. Jahrgangs (im Jahr 2000).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 24.12.2000

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