Frau Müller, Ihre Ordnung ist da!
Altenpfleger spielen Alltag von Menschen mit Demenz nach / Vorlage für bundesweite Weiterbildung

"Theater der Erinnerung": Pfleger schlüpfen in die Rolle ihrer kranken Schutzbefohlen
Naumburg. Laienschauspieler aus der Diakonie- Lernwerkstatt Lehnin bei Berlin und aus dem Naumburger Caritas- Pflegeheim Luisenhaus haben sich in einem Theaterstück mit dem Thema Demenz auseinandergesetzt.
Dicht aneinandergedrängt schieben sich die schwarzen Gestalten durch den Raum. Ihre bleichen Gesichter ziehen Blicke an, geben aber keine Blicke zurück. Irr und fragend die glasigen Augen, leicht geöffnet die Münder. Die Kleidung sitzt falsch herum oder viel zu eng; Knöpfe wurden an ihren Knopflöchern vorbeigeknöpft. Kurz darauf hocken die Gestalten auf dem Fußboden, rollen sich Murmeln zu, lachen -bis jemand die Kanne mit den kleinen Glaskugeln umwirft. Sofort wird die Szenerie schockgefroren. Erschrocken schauen die Schwarzgekleideten einander an. Szenenwechsel.
Mehr als eine Stunde lang spielt das "Theater der Erinnerung" mit der zerstörten Ordnung des Aberwitzigen. Doch sind die Schauspieler nicht echt und das Stück in seiner inneren Wahrheit nicht ausgedacht. Beim "Theater der Erinnerung" verkörpern Pfleger von Demenzkranken und andere Heimmitarbeiter ihre Schutzbefohlenen. Was zunächst als Weiterbildungsansatz gedacht war, haben 20 Laienschauspieler aus der Diakonie-Lernwerkstatt Lehnin bei Berlin und aus dem Naumburger Caritas-Pflegeheim Luisenhaus zum Bühnenerfolg gebracht.
Nach Auftritten in Städten wie Leipzig, Stuttgart, Wittenberg und zuletzt Naumburg soll das "Theater der Erinnerung" noch weiterbestehen. "Während wir beim jetzigen Stück Texte von Franz Kafka, Samuel Beckett und dem Dadaisten Kurt Schwitters verarbeitet haben, soll es im nächsten mehr um Biografien von Menschen mit Demenz gehen", sagt Regisseurin Martha Hölters-Freier. Unerlässlich bei der Entwicklung des derzeitigen Werkes, "Wenn ein Tiefseefisch verrückt wird ...", waren die Erfahrungen der Altenpfleger. Was ist normal, was ist verrückt, wo liegt die Grenze? Was passiert, wenn urplötzlich die Erinnerung aussetzt?
"Demenzkranke haben ein anderes Zeitgefühl", sagt Hölters- Freier. Dass Menschen mit Demenz ihre Pfleger oft als hektisch empfinden, zeigt etwa die Szene, in der einige Schauspieler wie aufgezogene Spielzeugfiguren um die Alten herumlaufen. Sätze wie "Wir pflegen ganzheitlich" klingen im Ohr des Zuschauers plötzlich ebenso sinnfrei wie "Frau Müller, Ihre Ordnung ist da!" Die Fragmente im Schauspiel erinnern an zeitgenössische Bühnenstücke. Logisch, meint die Regisseurin, denn "unsere Zeit ist verrückt, und Menschen mit Demenz sind das Symbol für die Verrückung unseres Lebens."
In der Schauspielergarderobe kämmt Kathrin Weiße gerade ihre Haare streng zurück und bindet sie über jedem Ohr zu zwei Knötchen zusammen. Dann steckt sich die 44-Jährige eine künstliche weiße Taube in die Frisur. "Ich bin Anna Blume und habe einen Vogel", sagt Weiße, im richtigen Leben Verwaltungsleiterin im Luisenhaus. Durch das Theaterstück habe sie erst richtig begriffen, was es heißt, dement zu sein. "Jetzt gehe ich lockerer mit unseren Heimbewohnern um und gebe mir Mühe, sie auf der Ebene abzuholen, auf der sie gerade sind, wenn ich mit ihnen spreche."
Eine offenere Atmosphäre hat auch Heimleiter Wolfgang Plehn in seinem Hause bemerkt: "Da ist etwas gewachsen, auch die Mitarbeiter des Luisenhauses gehen anders miteinander um." Plehn hat vor, aus dem "Theater der Erinnerung" ein bundesweites Konzept zur Weiterbildung von Altenpflegern und Angehörigen von Menschen mit Demenz zu entwickeln. An Florian Tonn hat das Demenztheater bereits Eindrücke hinterlassen. Mit seinen 20 Jahren ist der werdende Altenpfleger schon im dritten Lehrjahr und zugleich der Jüngste der Laiendarsteller. "Es heißt eben im Umgang mit alten Menschen nicht: So, wir ziehen jetzt mal die Jacke an", sagt der Weißenfelser, "sondern: Ich helfen Ihnen in die Jacke, denn jeder Mensch bleibt etwas Besonderes -auch mit Demenz." Über die Theaterauftritte hat er nur Gutes aus den Reihen der Zuschauer gehört. "Das Stück allein war schon für viele wie eine Weiterbildung."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 29.11.2007