Oma Gutsches Weihnachtsbirnen
Heiligabendgeschichte aus dem ehemaligen Braunkohletagebau Delitzsch-Südwest
Einen alten Baum verpfl anzt man nicht", murmelt Lucie Gutsche vor sich hin. Sie sitzt auf ihrer alten Küchenbank und starrt auf das letzte Glas Birnenkompott, das vor ihr auf dem Tisch steht. Am Abend würde sie sich die Christmette aus dem Erfurter Dom im Radio anhören, und dann ein Schälchen Birnen essen, leicht gesüßt und mit einer Prise Zimt, so wie Franz sie am liebsten gemocht hatte.
Kümmerlich hat ihr Birnbaum in diesem Jahr getragen. Mit dem Obstpfl ücker unterm Arm war sie im September ein letztes Mal zu ihrem Garten gegangen und hatte nach den spärlichen letzten Früchten geangelt. Die großen Schaufelradbagger haben nichts übrig gelassen von dem stattlichen Herzogin- Elsa-Hochstamm. Täglich kommen die Braunkohlekolosse dem Dorf ein Stückchen näher, ihr dumpfes Grummeln begleitet Lucie Gutsche bis in den Schlaf.
Sie ist die letzte Grabschützerin, die noch in ihrem kleinen Backsteinhäuschen ausharrt. "Einen alten Baum verpfl anzt man nicht", hat sie all denen zur Antwort gegeben, die sie zum Wegzug bewegen wollten -den besorgten Nachbarn ebenso wie dem drängenden Bürgermeister.
Ihr Blick wandert zu den Butzenscheiben ihres Küchenfensters, fällt auf den trüben Winterhimmel, die großen Löcher im Dach von Teubers Hühnerstall, die leeren Fensterhöhlen des niedrigen Wohnhauses nebenan. Ein schmächtiger graublonder Junge stochert mit einer Holzlatte in dem Schuttberg aus Möbelteilen und zerbrochenen Biberschwanzschindeln.
Jens Teuber zieht es in jeder freien Minute nach Grabschütz. Seine Eltern waren bei den ersten, die vor anderthalb Jahren ihr Haus verließen. Sie hatten sich gefreut auf die Neubauwohnung im zwei Kilometer entfernten Zwochau. "Alles wird besser", hatten sie zu Jens gesagt. Sie verstanden nicht, dass ihn das größere Kinderzimmer ebenso wenig lockte wie die kürzeren Wege zur Schule und zum Konsum.
Den ganzen Sommer über war er mit Nico über die Felder rund um Grabschütz gestromert, bis es dunkel wurde. Niemand schien die beiden Jungen zu vermissen. Nico, der jetzt in Delitzsch wohnte. Mit ihm hatte er das Baumhaus gebaut zwischen den breiten Ästen der Kastanie auf dem Hof. Bei Regen hockte er da jetzt häufi g und streichelte die streunende Katze, die irgendein Grabschützer zurückgelassen hatte. Wenn es nicht regnete, suchte er in den Schuttbergen zwischen den leeren Häusern nach Schätzen. Die Sammlung aus bunten Ofenkacheln, einer Fahrradklingel, Schrauben, Glasmurmeln und einem Sofakissen bewahrte er hinter der Geheimklappe in seinem Baumhaus auf. Heute hat er noch nichts gefunden.
Bald wird es zu dämmern beginnen. "Sie werden ihn suchen", denkt Lucie Gutsche, "heute an Heiligabend". Mühsam erhebt sie sich von der Küchenbank. Die Arthrose im rechten Knie. Nach den ersten Schritten geht es wieder leichter. Der Junge schreckt leicht zusammen, als sie plötzlich neben ihm steht. "Geh nach Hause", sagt sie leise.
Jens blickt auf. "Störrisch wie ein alter Esel", hatte seine Mutter neulich über Oma Gutsche gesagt, die jetzt leicht fröstelnd in ihrer geblümten Kittelschürze vor ihm steht. Er sitzt gern bei ihr in der warmen Küche. Manchmal hatte sie ihm und Nico eine Birne geschenkt, oder sie bat die beiden auf eine Tasse Kakao zu sich herein. Jetzt schüttelt er den Kopf. "Bescherung is erst um sechs", nuschelt er. "Darf ich noch 'n bisschen zu Ihnen?"
Minuten später sitzt der Junge auf Lucie Gutsches Küchenbank und isst das zweite Schälchen Birnenkompott. Sie hat ihr letztes Glas für ihn geöffnet, zieht sich einen der beiden Holzschemel an den Tisch heran und schaut zu, wie er den Birnensaft vom Löffel schlürft. So saß ich hier immer mit Franz, denkt die alte Frau. "Ham Sie denn gar keinen Weihnachtsbaum?", fragt Jens mit vollen Backen. Nach Weihnachtsschmuck und Christbaum war ihr ganz und gar nicht zumute gewesen, und die Tannenschonung am Rande des Dorfes gibt es nicht mehr. Wer hätte ihr auch helfen sollen, eine Tanne bis in ihre Wohnstube zu schleppen?
Erst jetzt, wo sie Besuch hat, fällt ihr auf, dass nichts in ihrem kleinen Haus an Weihnachten erinnert. Sie bückt sich zum untersten Fach ihres Küchenschranks und kramt zwischen Einwecktopf und Tischdecken den gold schimmernden Weihnachtskarton heraus. Sie setzt sich auf ihren Schemel gegenüber von Jens und nimmt die Kiste auf den Schoß. Die Krippenfi guren fallen ihr gleich als erstes ins Auge. Seit Franz tot ist, hat sie die Krippe schon nicht mehr aufgebaut. Besonders schön sind sie eigentlich nicht, die viele Male überstrichenen Gipsfi guren. Die Krippe und das Familienalbum waren die einzigen Habseligkeiten, die sie bei der Flucht herüberretten konnte. Daran hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Die beiden schweren, hastig gepackten Koffer, die sie nach wenigen Kilometern in einen Straßengraben geworfen hatte. Die Gänse, die sie am letzten Tag daheim noch rupfte. Das letzte Weihnachtsfest in Leubus, Franz hatte Heimaturlaub. Im dichten Schneetreiben mit Hedwig und den Nichten in den Gottesdienst, Bienenwachsduft, Blockfl ötenspiel, Gedichte an der Krippe ...
Langsam platziert Lucie Gutsche die Krippenfi guren vor dem halbleeren Kompottglas: Maria, Josef, das Christkind, Ochs und Esel. Satzfetzen und Erinnerungen wirbeln durch ihren Kopf. Mach dich auf zur Volkszählung nach Betlehem. Kein Platz in der Herberge. Das Krippenspiel mit Pfarrer Hellmann. Nimm das Kind und fl ieh nach Ägypten. Franz hatte den Josef gespielt. Schon damals hatte sie sich ein bisschen verliebt in seine blauen Augen. Einen alten Baum verpfl anzt man nicht. Verpfl anzt man nicht? Sie nimmt die Marienfi gur in die Hand. Unter ihrem blauen Gewand hatten schon so viele weiße Gipsstellen hervorgeblitzt, dass sie sie vor ein paar Jahren mit glänzender Lackfarbe überstrichen hatte. Franz hatte ihr den besorgt, wer weiß woher. Auch die heilige Maria hatte keine Heimat mehr, kommt ihr in den Sinn.
"Wie bitte?" Sie fährt zusammen. Sie ist es nicht mehr gewohnt, Besuch zu haben. "Ich hab doch gar nichts gesagt", Jens blickt sie mit großen Augen und einem leicht verschmitzten Grinsen an. Sie lächelt etwas verlegen zurück. Plötzlich packt sie Unternehmungslust. "Weißt du was, ich werde dich nach Zwochau begleiten." Der Gedanke ist ihr erst gekommen, während sie ihn ausgesprochen hat. Den Arthroseschmerz beim Aufstehen nimmt sie diesmal kaum wahr. Sie schaut auf die Küchenuhr. Die Christmette in der St.-Pius-Kirche hatte doch immer um 17 Uhr begonnen. Wenn sie sich beeilten, könnte sie es noch schaffen. Sie setzt die Wollmütze auf, zieht den braunen Wintermantel über ihre Schürze und schlüpft in die warmen, gemütlichen Stiefel. Wann habe ich Grabschütz das letzte Mal verlassen, versucht sie sich zu erinnern, während sie kurzatmig den aufgeweichten Weg nach Zwochau entlanggeht. Der Junge neben ihr schießt ein Schotterstück vor sich her. Nur, wenn sie mich wegtragen, hatte sie noch gestern gedacht. Es ist beinahe unheimlich still. Die Kohlebagger machen Weihnachtspause.
Als sie in den Weg zur katholischen Kirche einbiegen, schlägt die Kirchturmuhr fünfmal. "Is noch Zeit bis sechs, ich komme mit", sagt Jens und drängt sich neben ihr durch die schwere Holztür. Der Geruch von Bienenwachs dringt in ihre Nase, Kinder spielen auf Blockfl öten ein Weihnachtslied, das sie schon in Leubus gerne gesungen hat. Sie nickt dem Jungen neben sich aufmunternd zu und stimmt mit brüchiger Stimme ein: "Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart ..."
"Kann man einen alten Baum verpfl anzen?", fragt sich Lucie Gutsche, als ihr Blick auf die Krippenlandschaft fällt. Sie sieht die Marienfi gur. Eine dicke knorrige Wurzel liegt neben dem Stall von Betlehem. Dahinter steht ein Barbarastrauß, es sieht so aus, als würden die Blüten aus der alten Wurzel herausbrechen. Birnenblüten, stellt sie fest, mit einem kaum merklichen Lächeln auf den Lippen.
Dorothee Wanzek
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 19.12.2007