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Je 30 Stunden Arbeit für Mann und Frau

Jürgen Weißbach, DGB-Vorsitzender in Sachsen-Anhalt, über die Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschlan

Jürgen Weißbach Kirchen sollen sich lautstärker als bisher für familienverträgliche Arbeitszeitregelungen einsetzen.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist nach wie vor das Problem Nummer eins in Ostdeutschland. Der TAG DES HERRN fragte Vertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften nach Lösungen.

Frage: Eines der größten Probleme in den neuen Ländern ist die hohe Arbeitslosigkeit -in der Region um Hoyerswerda ist jeder Vierte unmittelbar betroffen. Was hält Arbeitgeber davon ab, im Osten mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen?

Weißbach: Ich denke, häufig ist es die Ertragslage des Betriebs. Jeder Betrieb muss darauf achten, dass er für seine Auftragslage die richtige Zahl von Beschäftigten hat. Wir haben in Ostdeutschland eben eine zu schwach entwickelte industrielle Basis. Und wir haben ein stark sinkendes Bauauftragsvolumen. Das ist natürlich in Hoyerswerda ein besonderes Problem. Aber wir haben auch in Sachsen-Anhalt, etwa im Mansfelder Land oder in Staßfurt, ähnlich hohe Arbeitslosenquoten. In manchen Teilen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gibt es bis zu 30 Prozent registrierte Arbeitslose.

Frage: Was schlagen Sie von Gewerkschaftsseite her vor, um die Situation zu verbessern?

Weißbach: Wir haben die gleichen Vorstellungen wie viele andere. Wir brauchen Investitionen für zukunftsfähige Betriebe. Es predigen ja alle, dass wir hier gute Arbeitskräfte haben, dass wir Flächen haben, dass wir eine sich zunehmend verbessernde Infrastruktur haben. Eigentlich ist Ostdeutschland ein guter Investitionsstandort. Trotzdem gibt es besonders bei der westdeutschen Großindustrie Hemmungen, hier zu investieren.

Frage: Wo sehen Sie Ursachen?

Weißbach: Die westdeutsche Industrie denkt global. Sie fasst Standorte im westlichen Ausland oder in Asien ins Auge. Gegenüber Ostdeutschland wirkt dagegen noch so ein bisschen der Kalte Krieg nach. Ich würde das auch festmachen an den Beamten, die aus Westdeutschland in die Magdeburger Regierungsbehörden gekommen sind. Viele von ihnen haben sich in Helmstedt angesiedelt, weil sie sich nicht getrauten, ihre Kinder in eine ostdeutsche Schule zu schicken. Da steckt viel Unkenntnis und mangelnde Flexibilität dahinter. Ausländische Investoren haben weniger Hemmungen. Wir haben in Ostdeutschland deshalb eine überproportional hohe Zahl von ausländischen Investoren.

Frage: Ab wann sollten in Ostdeutschland Ihrer Ansicht nach Westlöhne und -renten gezahlt werden?

Weißbach: Eigentlich sofort -aus Gerechtigkeitsgründen.

Frage: Würde das nicht weitere Arbeitsplätze gefährden?

Weißbach: Nein. Das ist ja eine Wunschvorstellung. Umgesetzt wird das ja durch die Tarifverhandlungen der Gewerkschaften. Und die Gewerkschaften respektieren die konkrete wirtschaftliche Lage. Sie verhandeln so, dass zukunftsfähige Betriebe eine Übergangsfrist bekommen.

Frage: Wann ist es realistisch, mit einer Angleichung zu rechnen?

Weißbach: Ich denke, in fünf Jahren sollte es passiert sein. Das ist auch realistisch, wenn ich das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe und in der Industrie sehe.

Frage: Wodurch könnte gerade die hohe Jugendarbeitslosigkeit im Osten gesenkt werden?

Weißbach: Das braucht noch ein bisschen Geduld. Wir hatten durch die DDR-Familienpolitik einen starken Geburtenanstieg zwischen 1975 und 1990. Ein Drittel aller heute 14- bis 25-Jährigen in ganz Deutschland ist in der ehemaligen DDR geboren. Die Wirtschaft kann im Moment objektiv nicht alle Jugendlichen aufnehmen. Das dauert bis 2010. Dann werden wir händeringend nach Jugendlichen suchen, weil dann auch eine große Verrentungswelle läuft. Bis dahin müssen wir uns auch mit außerbetrieblicher Ausbildung für die Jugendlichen über Wasser halten. Ein Teil der Jugendlichen geht ja von selbst auf Wanderschaft. Aber ab 2010 werden wir sie zurückwerben müssen.

Frage: Sie glauben, das gelingt?

Weißbach: Ab 2010 wird man besondere Werbekategorien einführen müssen, auch vielleicht Mobilitätspremien von West nach Ost. Aber wir sollten im Moment das Thema nicht ganz so hoch hängen, dass Jugendliche der Beschäftigung wegen nach dem Westen gehen. Ein Drittel kommt relativ bald wieder zurück. Aber es hat schon etwas Tragisches, dass gerade viele junge Frauen Ostdeutschland verlassen, weil sie hier noch geringere Chancen haben als junge Männer. Und wenn die im Westen heiraten, dann werden sie dort bleiben.

Frage: Haben Sie Ideen, wie eine bessere Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit gerade für Frauen erreicht werden könnte?

Weißbach: Eigentlich haben wir da in Ostdeutschland eine sehr gute Ausgangslage. Wir haben eine Vollversorgung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen -trotz des Abbaus von Kindereinrichtungen aufgrund des seit 1990 zu verzeichnenden Geburtenrückgangs. Die Arbeitgeber müssten nur endlich noch mehr Bereitschaft zeigen, auch Teilzeitbeschäftigung anzubieten.

Frage: Sind Familie und Beruf aufgrund der hohen Flexibilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt überhaupt vereinbar?

Weißbach: Ich sehe das relativ optimistisch, wenn Männer und Frauen bereit sind, sowohl Arbeitsleben als auch Kinderbetreuung zu teilen. Ich stelle fest, dass da bei vielen jungen Männern -und auch bei jungen Frauen, die da ihre Männer erziehen -doch ein Fortschritt zu erkennen ist.

Frage: Was können die Kirchen tun, damit sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannt?

Weißbach: Die Kirchen haben da schlechte Karten. Sie können genausowenig wie die Gewerkschaften Arbeitsplätze schaffen. Aber ich fände es gut, wenn die Kirchen das Teilen von Arbeit vertreten würden, wenn sie sich lautstärker als bisher für familienverträgliche Arbeitszeitregelungen einsetzen würden und auch eigene Modelle dafür entwickeln. Vielleicht könnten auch die westdeutschen Ortskirchen für Investitionen im Osten werben.

Frage: Was für Arbeitszeitmodelle schweben Ihnen vor?

Weißbach: Also wenn zum Beispiel Mann und Frau je 30 Stunden berufstätig wären, wenn sich also drei Leute zwei Arbeitsplätze teilen würden, es muss ja nicht immer halbtags sein.

Frage: Und wie sieht das dann mit dem Lohn aus? Sollten die so Beschäftigten dann mit zwei Drittel des Gehalts auskommen?

Weißbach: Ich denke, wer Teilzeit arbeitet, muss sich darauf einstellen, dass er statt für 40 nur für 30 Stunden bezahlt wird. Aber wenn das Familieneinkommen dann wieder stimmt, muss das ja möglich sein. Nur die ganz Reichen, die teilen nicht, das ist das Problem.

Fragen: Karin Hammermaier

Bitte lesen Sie dazu auch das Interview mit Dieter Hundt

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 11 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 15.03.2002

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