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Aus der Region

EU-Gesetze auf dem Vormarsch

Charta der Grundrechte spiegelt geistige Situation in Mittel- und Westeuropa

Erfurt (ep) - Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union soll künftig einmal die Verfassungen der einzelnen Mitgliedsländer - also auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland - ablösen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Grundrechtekatalog in einen europäischen Verfassungsvertrag überführt oder zumindest zur Grundlage für die Erarbeitung einer solchen Verfassung wird. Daran erinnerte bei einem Abend des Katholischen Forums im Land Thüringen zum Thema "Europa am Scheideweg - Die Bedeutung der Grundrechte-Charta der Europäischen Union" der Erfurter Jurist Martin Borowsky. Borowsky war im Auftrag der Thüringer Staatskanzlei an der Ausarbeitung des Papiers beteiligt.

In der Charta, die am 7. Dezember vergangenen Jahres in Nizza feierlich proklamiert wurde, sind drei verschiedene Arten von Rechten, so genannte Grund- und Gruppenrechte, formuliert: die Freiheits- und Gleichheitsrechte, die für jeden Menschen gelten, Grundrechte, die nur den Bürgern der Europäischen Union zustehen sollen sowie wirtschaftliche und soziale Rechte. Damit, so Martin Borowsky, seien erstmalig Freiheitsrechte (zum Beispiel Gewissensfreiheit) und Sozialrechte (zum Beispiel Recht auf Arbeitsvermittlung) in einem so grundsätzlichen Werk wie es die Charta ist zusammengefasst.

In die Präambel der Charta hatten Vertreter aus verschiedenen Ländern der Europäischen Union gern hinein schreiben wollen, dass sich die Staaten, die sich die Charta geben, ihrer Verantwortung gegenüber Gott bewusst sind - eine Verpflichtung, wie sie auch im ersten Satz des deutschen Grundgesetzes steht, berichtete Borowsky. Doch dies scheiterte am Veto der Franzosen. Begründung: Die französische Verfassung verlange eine streng säkulare und laizistische Trennung von Kirche und Staat. Auch eine Formel wie sie sich in der erst 1997 in Polen in Kraft getretenen Verfassung findet, wonach sich die, die an Gott glauben, sich verantwortlich vor Gott wissen, und die, die aus anderen Quellen leben, sich ebenfalls ihrer Verantwortung stellen, sei nicht durchzusetzen gewesen, so der Jurist. Stattdessen ist nun nur vom "Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes" der Union die Rede, wobei in der französischen und in der englischsprachigen Fassung sogar nur vom "spirituellen Erbe" gesprochen wird, also noch unkonkreter formuliert ist. Borowsky äußerte jedoch die Hoffnung, man werde, wenn es in den nächsten Jahren darum geht, aus der Charta eine europäische Verfassung zu machen, nochmals neu darum ringen, zumal es in Frankreich neben der katholischen Seite auch von den protes-tantischen Kirchen und vom Großrabbiner von Paris an der von Frankreich durchgesetzten Formulierung Kritik gegeben habe.

Problematisch ist nach Auffassung Borowskys in der Charta auch, dass im Kapitel I (Würde des Menschen), Artikel 3, nur das Klonen von Menschen verboten ist, nicht aber therapeutisches Klonen, bei dem Embryonen getötet werden. Dies ist nach deutschem Gesetz verboten, in Großbritannien aber erlaubt. Zudem werden in den Artikeln 2 und 3 von der "Person" und nicht vom "Menschen" gesprochen, der das Recht auf "körperliche und geistige Unversehrtheit" hat. Hintergrund dafür sei zwar, dass im Französischen das Wort "l'homme" Mensch auch Mann, nicht aber Frau bedeutet, und deshalb der Begriff "personne" gewählt worden sei. Dennoch bietet dies die Gefahr, die Artikel so auszulegen, dass etwa neu gezeugtem menschlichen Leben in den ersten Zellenstadien nicht der Rang einer Person zuerkannt wird und damit auch nicht das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, was zum Beispiel der Abtreibung oder der Verwendung zu wissenschaftlichen und medizinischen Zwec-ken Tür und Tor öffnet. Erste entsprechende Auslegungen gebe es schon.

Kritikwürdig sei etwa auch, dass die Charta in Kapitel II, Artikel 9, zwar von den Mitgliedsländern verlangt, das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen, so zu akzeptieren, wie es in den einzelnen Staaten praktiziert wird, aber nicht umreißt, was eine Ehe ist, weil es darüber keinen Konsens mehr gibt. Das heißt, auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften können bei entsprechender nationaler Gesetzgebung unter diesen Artikel fallen.

Neben kritischen Aspekten stellte Borowsky aber auch positive Seiten der Charta vor. So sei die "unantastbare Würde des Menschen" in das Papier aufgenommen worden, was in mancher Verfassung der Mitgliedsstaaten so nicht formuliert sei und ein klares Wort gegen jegliche Extremismen darstelle, die wen auch immer zu Menschen zweiter Klasse machen wollten.

Die Charta, die von einem Team von 62 Experten aus den Mitgliedsländern sowie europäischen Gremien seit 1999 erarbeitet wurde, sei zwar noch nicht rechtsverbindlich, habe aber "schon rechtliche Ausstrahlungskraft", sagte Martin Borowsky. So ziehe der Europäische Gerichtshof in Luxemburg bei Entscheidungen schon das Papier als Grundlage heran. Bei zunehmend mehr Fragen - erinnert sei etwa an die Zulassung von Frauen in die kämpfende Truppe der Bundeswehr - spielen europäische Gesetze eine Rolle und werden mehr und mehr die Bedeutung des Grundgesetzes zurückdrängen.

Die Charta habe aber auch "nach außen" bereits insofern "Symbolwirkung", so Borowsky, als sie Ländern, die in die Union hinein wollen, deutlich macht: "Ihr tretet einer Wertegemeinschaft bei", deren Werte ihr anerkennen müsst.

Nach ihrer Proklamation werde nun geprüft, ob die Charta rechtsverbindlich werden soll. Die einzelnen Staaten sind gefordert, die Charta zu ratifizieren. Möglicherweise im Jahr 2003, spätestens aber 2004 soll beschlossen werden, wie es weitergeht.

Im Rahmen der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion im Erfurter Bildungshaus St. Martin wurde kritisch gefragt, inwieweit sich europäische Institutionen zunehmend auch Kompetenzen anmaßen.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 17 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 26.04.2001

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